Tradition muss erhalten bleiben

Leontina Prodan möchte rumänische Folklore wiederbeleben

Leontina Prodan fördert die rumänische Tradition. Ihre kleine Textilfabrik sieht wie ein Folkloremuseum aus.

Handspindel, Haspel, Spinnrad, Webstuhl – Begriffe, die Kinder heutzutage bloß aus Märchen kennen. Nun durften sie die kleinen Besucher auch tatsächlich sehen und antasten.

Andrei Racu zeigt die Puppe des Glücks. Für die Kinder ist es „Rapunzel“.

„Schaut euch diese trockenen Pflanzen an – kennt ihr sie?“, fragt Leontina Prodan die drei Kinder, die sich gerade die Werkstatt der Folklore-Sammlerin anschauen. Die Kinderaugen blicken fragend durch den Raum. Die Kleinen heben unwissend die Schultern. „Das sind trockene Leinpflanzen“, erklärt die Frau. „Daraus entstehen Textilfasern, die zu Stoffen gewoben werden“, fügt Leontina Prodan hinzu. Wenn man die Nähwerkstatt von Leontina Prodan betritt, hat man fast den Eindruck, in ein Museum eingedrungen zu sein. Die Wände sind mit Feldblumen bemalt, daran hängen verschiedene Gemälde mit traditionellen Motiven. Gefäße aus Ton und Holz, Folklorebücher und Gedichtbänder stehen aufgestapelt auf den Regalen, aber auch Gegenstände aus längst vergangenen Zeiten, wie beispielsweise ein Webstuhl, sind ausgestellt. Mit einem hölzernen Faserklopfer werden die Leinfasern verdünnt, danach kommt ein Kamm zum Einsatz, mit dem Faser für Faser entwirrt wird.

Leontina Prodan setzt sich an den Webstuhl und führt den Anwesenden vor, wie aus den Naturfasern der Stoff entsteht. Die Kinder dürfen sogar selbst Hand anlegen. Das, was die Frau von ihrer Mutter gelernt hat, will sie nun an die junge Generation weitergeben. Mit fragendem Gesichtsausdruck bemühen sich die Kinder, die neuen Begriffe in ihren Wortschatz aufzunehmen. „Die Handspindel, die Haspel, die Spulen, das Spinnrad und der Webstuhl... ich bemerke jetzt, dass diese Wörter bald nur noch in den Geschichtsbüchern zu finden sein werden“, sagt Leontina Prodan. Und all das bedeutet meist eine Geschichtsseite, die vielen aus dem eigenen Buch des Lebens fehlt. „Wir leben in der Stadt. Die Kinder haben, leider, kaum noch Kontakt zum Leben am Dorf, so ist vieles hier für sie fremd“, sagt die etwa 60-jährige Oma, die die beiden Geschwister begleitet. Gerade deswegen hat sie ihre zwei Enkelkinder in die Werkstatt von Leontina Prodan gebracht. Etwas scheu am Anfang, sind die Kleinen über das Entstehen der Faser und den Stoffteil, der gerade am Webstuhl entsteht, begeistert.

„Für Kinder ist es heutzutage einfach, ihre gewünschten Spielsachen zu bekommen. Sie gehen einfach in den Laden rein, zeigen mit dem Finger auf die gewünschte Puppe, die Eltern kaufen sie und nehmen sie mit nach Hause. Diese Gelegenheit hatten unsere Großeltern, zum Beispiel, nicht. Sie mussten sich selber Puppen und Spielsachen basteln“, sagt Leontina Prodan mit sanfter Stimme. „Linnen, Hanf, Wolle – all das waren die Stoffe, die zur Herstellung der Spielsachen dienten“, fügt die Frau hinzu.

Puppen aus natürlichen Stoffen

Ein 30-jähriger Mann betritt den Raum und setzt gleich fort. „Diese Erfahrung dürft ihr gleich auf eigener Haut erleben“, sagt Andrei Racu und lädt die kleinen Teilnehmer und ihre Begleiter in den Nebenraum ein. Sie setzen sich um einen großen, runden Tisch. Darauf sind bunte Stoffe aufgestapelt, Hanfbüschel, Fäden und Scheren. Mit großen Augen beobachten die drei Kinder die Stoffe und wissen noch nicht, was sie damit anfangen sollen. Dann beginnt Andrei mit einer kurzen Einführung. „Ich werde euch jetzt einige handgemachte Puppen zeigen“, sagt er und nimmt schon die erste Stoffpuppe in die Hand. „Das ist die Puppe des Glücks. Die Kinder nennen sie Rapunzel“, sagt er lächelnd, während er das lange, blonde Haar der Puppe streichelt. „Das ist die Puppe des Wohlstandes – kleine Säcke mit Weizen und allerlei Getreide bilden ihren Körper“, fährt der Mann fort und stellt die Puppen eine nach der anderen vor: die Puppe der guten Nachrichten mit einer kleinen Glocke drin, die Puppe der Brautwerbung, die unbedingt ins Fester gesetzt werden musste, damit die jungen Männer im Dorf erfahren, dass im Haus eine Jungfrau auf Freier wartet, und die Puppe der Hausfrau mit zehn Händen, die bei der Hausarbeit helfen soll. „Es gibt eine Puppe für alle: für Babys und Kleinkinder, für Jungfrauen und Hausfrauen und für alle wichtigen Ereignisse im Leben“, erklärt der Mann auf Rumänisch mit feinem moldawischen Akzent.

Andrei Racu und seine Frau Gayana kommen ursprünglich aus der Republik Moldau. Er arbeitet in einer Firma in Temeswar, während seine Frau auf ihr acht Monate altes Baby aufpasst. Mit viel Enthusiasmus erzählt er von den Puppen, die er und seine Frau herstellen. Es sind Puppen slawischer Herkunft, wie sie ihre Vorfahren noch verwendet haben. Für ihre Herstellung werden ausschließlich Naturfasern verwendet – und diese stellt ihnen Leontina Prodan zur Verfügung. Heute wollen Andrei und Gayana Racu den Kindern beibringen, wie derartige Puppen hergestellt werden. Gayana spricht vorläufig nur ein bisschen Rumänisch, deswegen darf sie die Handarbeit verrichten. Sie nimmt ein Holzstock in die Hand und wendet darum einige Hanffasern. Und zwar so, dass ein runder Kopf entsteht. Die Prozedur wird am anderen Stockende wiederholt. Die Kinderhände machen es ihr zögernd nach.

Zuerst wird der Kopf, dann der Rumpf und zuletzt die Haare aus Hanffasern zusammengebastelt. Schritt für Schritt beginnt das Ästchen eine Puppenform zu bekommen. Eltern und Großeltern dürfen den Kleinen bei der Arbeit helfen. Gerade an diesem heißen Sommermorgen sind nicht viele Neugierige dabei. Bloß drei Kinder, eine Mutter und eine Großmutter sind in die Werkstatt gekommen. „Wir haben im Internet über diese Werkstätten erfahren. Etwas Neues ab und zu ist immer gut“, sagt die Mutter. 50 Lei kostet die Teilnahme an einer solchen Werkstatt, wobei alle Stoffe und Materialien von den Organisatoren zur Verfügung gestellt werden.

Ethno-Mode wieder im Trend

Die Bastelwerkstatt ist in der kleinen Textilfabrik von Leontina Prodan keine Neuigkeit. Seit Jahren veranstaltet die Frau mehrere Werkstätten für Kinder und Erwachsene für die Erhaltung der rumänischen Tradition. Die 58-jährige Frau ist Geschäftsführerin der Textilienfabrik Pif und stellt seit Anfang der 90er Jahre Schuluniformen und Folklorekleidung her. Seit mehreren Jahren hat Leontina Prodan auch einen Verein gegründet. ACTIS - „Tradiţii, Identitate şi Succes“ (Tradition, Identität und Erfolg) - heißt der Kulturverein. Sehr beliebt sind die Werkstätten zur Neuanschaffung und Instandsetzung der alten rumänischen Trachten, vor allem von rumänischen Blusen, die seit einigen Jahren unter rumänischen Frauen wieder sehr beliebt sind. Sogenannte „şezători“ (Anm.d.Red.:„Ritz- und Ratschkreise, bei denen sich die Frauen trafen, spannen und nähten und miteinander sprachen) werden gewöhnlich das ganze Jahr hindurch, jeden Donnerstag zwischen 17 und 19 Uhr, gehalten. Eine kurze Unterbrechung gibt es im Sommer, wobei im Oktober diese Handarbeitskreise wieder aufgenommen werden. Infos dazu können von der Webseite www.actis.traditii-design.ro abgerufen werden.

Leontina Prodan beteiligte sich im Laufe der Jahre auch an verschiedenen internationalen Messen, unter anderem in Paris, Mailand, Düsseldorf und Leipzig. Sie fördert stets das Konzept der Kleidung aus natürlichen Stoffen – das sind Kleidungsstücke, die vollständig aus Lein- und Hanffasern, Baumwolle und Seide gefertigt wurden. Für ihre traditionellen Kollektionen hat sie sogar Bestellungen aus dem Ausland bekommen und berühmte rumänische Folklorekünstler, wie zum Beispiel Grigore Leşe, haben ihre Kleider getragen.

Stolz erzählt sie davon mit funkelnden Augen, wobei sie sich an den überdachten Tisch im Hof hinsetzt. Brombeersträucher winden sich empor, die ersten Brombeeren sind schon reif. Im Hof gibt es auch einen Olivenbaum und einen Feigenbaum. Auch ein paar Leinpflanzen wachsen da – denn Leontina Prodan liebt es, von der Natur umgeben zu sein, wie sie es in ihrer Kindheit in ihrem Heimatdorf Gâlgău Almaşului im Verwaltungskreis Sălaj gewesen ist. Ein paar Mal im Jahr kehrt sie dorthin zurück, denn seit Kurzem versucht sie hier die Tradition des Hanfanbauens in Rumänien wiederzubeleben. Sie selbst besitzt eine Hanfplantage, die sie wegen den gesetzlichen Vorschriften in Rumänien sehr schwer  ins Leben rufen konnte. Doch nachlassen möchte Leontina Prodan nicht. „Der Hanfanbau war Tradition bei uns – darauf möchte ich nicht verzichten“, sagt sie. In einigen Tagen ist sie wieder bei sich zu Hause, denn die „Festtage des Hanfes“ am 6. August werden da veranstaltet. Auch Andrei Racu mit seiner kleinen Familie wird da einen Workshop halten.