„Alles Hirngespinste, oder was? Paradigmen des Wahnsinns in Kultur, Kunst, Literatur und Sprache“

Zur XXV. Internationalen Tagung Kronstädter Germanistik

Am 25.  März 2022 hat an der Philologischen Fakultät in Kronstadt, am Departement für Literatur und Kulturwissenschaft – Germanistikabteilung, in Zusammenarbeit mit der GESELLSCHAFT DER GERMANISTEN RUMÄNIENS, Zweigstelle Kronstadt, die XXV. INTERNATIONALE TAGUNG KRONSTÄDTER GERMANISTIK unter dem Motto Alles Hirngespinste, oder was? Paradigmen des Wahnsinns in Kultur, Kunst, Literatur und Sprache im Online-Format stattgefunden.
In der Begrüßungsansprache zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum hob die Veranstalterin und Hochschulprofessorin Carmen E. Puchianu die Langlebigkeit, Konstanz und Substanz dieser Veranstaltung hervor. Darüber hi-naus äußerte die Organisatorin Zuversicht hinsichtlich zukünftiger Kontinuität. Lobende Worte sprach ebenso der Dekan der Philologischen Fakultät aus: Die Internationale Tagung der Kronstädter Germanistik hat sich als älteste Fachkonferenz der hiesigen philologischen Institution im Rahmen der in- und ausländischen Germanistik bewährt.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Phänomenologie psychischer Belastungen bot sich geradezu an, da nach zwei Jahren Corona-Pandemie und durch den vor Kurzem ausgebrochenen Krieg in der Ukraine der soziale, politische, pathologische Wahnsinn Hochkonjunktur erlebt. Die 20 Beiträge beleuchteten den Facettenreichtum des Wahnsinns, wobei offenkundig wurde, dass dieses Phänomen lediglich interdisziplinär untersucht werden kann, indem Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Diskurstheorie, Philosophie, Psychologie, Soziologie wie Kunstgeschichte herangezogen werden.

Einen interessanten und aufschlussreichen Einblick in die 25-jährige Geschichte der nun schon zur Institution gewordenen Kronstädter Tagung bot als beste Kennerin Puchianu selbst. In dem Festvortrag Tagung Kronstädter Germanistik zwischen wissenschaftlichem Dilettantismus und performativem Wahnsinn – eine Vierteljahrhundert Rückschau wurde die Entwicklung der Tagung nachgezeichnet und auf Meilensteine eingegangen. Die Referentin wies auf die Waghalsigkeit der Anfänge und auf die beachtliche Leistung der Kronstädter Germanistik innerhalb eines Vierteljahrhunderts hin.

Im Anschluss an den Festvortrag alternierten Referate aus verschiedenen Fachbereichen. Im ersten Block gewährte Frau Dr. Gudrun Liane Ittu (Hermannstadt) einen Einblick in Bildwerke von Psychiatriepatienten, Dr. Kinga Gáll (Temeswar) sprach darüber, wie sich Wahnsinn historisch in lexikalischen Paradigmen fixierte, Dr. Delia Cotârlea (Kronstadt) widmete ihre Untersuchung der narratologischen Perspektivierung der pathologischen Hysterie am Beispiel rumäniendeutscher Texte. Abgeschlossen wurde das erste Segment von der emeritierten Hochschulprofessorin Christel Baltes Löhr aus Trier, die in ihrem Vortrag Votan Wahnwitz: Wahnsinn und Genie in Liedtexten von Udo Lindenberg einen soziologischen Ansatz für die wissenschaftliche Diskussion heranzog.

Das zweite Panel begann mit dem visuell ansprechend gestalteten und inhaltsreichen Vortrag der Hermannstädter Hochschulprofessorin Doris Sava Total gaga? Zur Konzeptualisierung des Wahnsinns in der Phraseologie, in dem Festlegungen der Versprachlichungen von Wahnsinn am Beispiel von Bildern nachvollzogen wurden. Die Hochschulprofessorin Roxana Nubert und Dr. Ana Maria Dasc˛lu-Romi]an (Temeswar) widmeten sich der literarischen Verarbeitung des Wahnsinns in zahlreichen Texten Herta Müllers, während sich Dr. Maria Muscan aus Konstanza mit der Problematik der Tabus und Euphemismen in der Umschreibung des Wahnsinns auseinandersetzte. Um der interdisziplinären Herangehensweise gerecht zu werden, wurde dieser Block von dem Vortrag der Kronstädter Kollegin Dr. Ioana Diaconu zum Schwerpunkt Sachcomics zumThema Psychologie und Sigmund Freud ergänzt. Zum Abschluss rundete die etymologische Untersuchung von Dr. Adina Lucia Nistor aus Jassy So ein Narr! So ein Unsinn!. Zur Etymologie und Geografie obiger Familiennamen in Deutschland die Diskussionen des Vormittags ab.

Am Nachmittag folgten zwei weitere Sektionen, in denen sich wie bereits am Vormittag Literatur-und Sprachwissenschaft abwechselten. Die Vorträge umfassten eine Spannbreite von der Schelmenliteratur bis zu zeitgenössischer Literatur. So referierte Dr. Cristina Dogaru (Bukarest) über die Narrenfigur des Till Eulenspiegel, Dr. Stefan Lindinger (Athen) analysierte den Wahnsinn in Tiecks Novelle Waldeinsamkeit und verwies dabei auf intertextuelle Bezüge zu Goethes Werther, Dr. Sunhild Galter (Hermannstadt) beschäftigte sich mit dem ge- bzw. verstörten Protagonisten in Ulrich Plenzdorfs kein runter kein fern, Dr. Beate Petra Kory (Temeswar) beleuchtete die Geisteskrankheit in Heinar Kipphardts psychiatriekritischem Roman März, Dr. Laura Cheie (Temeswar) untersuchte den pathologischen Wahnsinn in Paul Celans Spätlyrik am Beispiel von Holzgesichtiger,/schlackermäuliger/Narr überm Tretrad, Diana Pop (Temeswar) zeigte weitere Facetten des Wahnsinns in Verbindung mit Ethik anhand von Dürrenmatts Tragikomödie Die Physiker auf. Zum Abschluss analysierte Alexandra Constantin aus Klausenburg den Stellenwert des Wahnsinns im Schauerroman Der Dieb in der Nacht von Katharina Hartwell, während Dr. Bianca Bican (Klausenburg) Paradigmen des Scheiterns in Zusammenhang mit Wahnsinn am Beispiel von Su-sanne Röckels Der Vogelgott interpretierte. Im Bereich der Sprachwissenschaft betrachtete Miruna Ivanov (Bukarest) sprachliche Aspekte mit Bezug auf Wahnsinn in deutschen Fernsehspots. Der Bereich Didaktik war durch Andreea Lukács T˛nase (Kronstadt) vertreten, die die Rolle des DaF-Lehrers als Kulturvermittler durch Literatur hervorhob.
Der Wahnsinn als Krankheit, menschliches Stigma, Genialität oder/und sakrale Eigenschaft? Durch die 20 Vorträge wurde ausgiebig über die Phänomenologie des Wahnsinns innerhalb dieses vielschichtigen Spannungsfeldes reflektiert. Dabei wurden Schwerpunkte wie Pathologisierung, Sakralisierung, Diskurs, Konzeptualisierung der Sprache, Narrheit, Tabuisierung in den Diskussionen aufeinander bezogen, wenn auch in den Vorträgen fachspezifisch behandelt. Alles in allem: Eine besonders ertragreiche 25.Tagung Kronstädter Germanistik, zumal unterschiedliche Perspektivierungen des Wahnsinns wissenschaftlich ausgelotet und deren Verzweigungen nachgewiesen wurden.