Das sächsische Bauernhaus und seine Bewohner

Aus „Bilder aus dem sächsischen Bauernleben“ von Friedrich Fr. Fronius (II)

Aus dem Verband der Bruderschaft tritt der Bursche nach seiner Heirat in den Verband der Nachbarschaft. Das Dorf ist in der Regel in vier Nachbarschaften geteilt, die einem jährlich freigewählten Nachbarvater unterstehen. Es sind dies uralte Genossenschaften zu gegenseitiger Rechtssicherung und Hilfeleistung. Hat ein Nachbar eine schwere Arbeit vor, zum Beispiel die Aufstellung einer Scheuer, eines Dachstuhls, so leistet ihm die ganze Nachbarschaft die beim Nachbarvater  erbetene Hilfe. Zu den gemeinsamen Dorfarbeiten rückt jede Nachbarschaft unter Führung ihres Nachbarvaters aus. Er hat auch das sittliche Leben in seiner Nachbarschaft zu überschauen. Jährlich einmal hält er den Richttag oder Sitttag, zu dem alle Nachbarn im Sonntagskleid erscheinen. Sein Zweck ist: etwaige Pflichtversäumnisse und Vergehen gegen die Nachbarschaftsartikel zu bestrafen. Aus den  eingegangenen Strafen wird eine Kasse gebildet, aus der ärmeren Nachbarn Darlehen gegeben werden. Dreimal des Jahres, am Vortag der Abendmahlsfeier, versammelt der Nachbarvater die Nachbarschaft zum Versöhnabend. Etwaige Streite werden hier beigelegt, und alle Nachbarn söhnen sich aus, um das heilige Mahl würdig vorbereitet empfangen zu können. Jede Nachbarschaft beerdigt ihre Toten und sorgt für Grab und Grabgeläute.

Die Sorge für Haus und Hof nimmt die ganze Kraft des sächsischen Bauern in Anspruch. In zäher, ernster Arbeit vergießt er reichlich seinen Schweiß.
Die Fortschritte im Betrieb der Landwirtschaft brechen sich jetzt erst langsam bei ihm Bahn. Und doch braucht sich unser Bauer dessen nicht zu schämen, was er in der Einöde, in die staatskluge ungarische Könige ihn beriefen, geleistet hat. Selten hat es ihm, und nie durch eigene Schuld an dem täglichen Brot gefehlt. Wenn seine Nachbarn die Vorräte des Jahres längst aufgezehrt hatten, standen hinter den Ringmauern der sächsischen Verteidigungskirchen, mit den Namen und Hausnummern der Eigentümer bezeichnet, in stattlichen Reihen, gefüllt mit fünfundzwanzigjährigem Weizen, die Kästen und Speicher, aus denen er bis heute seine Lehrer, die Bildner seiner Jugend, besoldet.
In seiner äußeren Erscheinung fehlt dem sächsischen Bauern auch das Merkzeichen des Deutschen nicht, der hohe Wuchs. An der alten Tracht hält er mit Zähigkeit fest. Für Sonntag und Werktag hat er besondere Kleidung. Wirtschaftlich und sparsam von Hause aus, lebt er im ganzen sehr mäßig. Hinter seinem guten Aussehen steckt oft mehr als eine ganz gewöhnliche Körperkraft. Hebt auch nicht jeder wie der starke Hannes in Draas die Kuh über den Zaun, damit sie der herbeieilende Flurschütz nicht im Verbot treffe, und trägt auch nicht jeder einen Sack mit fast hundert Liter Weizen in den Zähnen weg, so schreitet doch mancher noch mit 70-80 Jahren hinter dem Pfluge her und tanzt als Greis noch munter auf der Hochzeit der Enkelbraut.

In Kleidung, Haushaltung und Hof liebt er Reinlichkeit und Ordnung. Er scheut keine Arbeit und wenn er nichts anderes zu tun hat, so reißt er, wie der Magyar ihm nachsagt, sein Haus ein und baut ein neues.
Im geselligen Verkehr ist er, bis er auftaut, etwas verschlossen, gar bald wird er zutraulich und ist in seinen Mitteilungen und Erzählungen sehr umständlich; selten bringt er‘s bis zu der hagebuchenen Grobheit andrer Bauern; die ist hierzulande mehr Kennzeichen des Vorstädters. Vor Gesetz und Obrigkeit hat er heilsamen Respekt und meint, auch einen Vorgesetzten aus Stroh gedreht, müsse man ehren.
Ein tief religiöser und kirchlicher Sinn zeichnet unsere Bauern vor vielen anderen aus. Seine Gotteshäuser stehen noch nicht leer. Sie stellen, meist vom Berg oder Hügel ins freundliche Tal herabschauend, nicht prunkende Paläste Gottes, als vielmehr feste Burgen und Bollwerke dar, mit Mauern, Türmen, Basteien und Torwerken umgeben. So zu bauen zwang die Not und lehrte der praktische Blick die Vorfahren, die hinter diesen Bauernburgen gar oft Leben und Eigentum gegen die Türken und oft noch schlimmere Feinde verteidigen mussten. In der uralten sächsischen Dorfkirche und ihrem ganz eigenartigen Baustil steht verkörpert vor uns der große Gedanke, mit dem das Siegeslied der Reformation beginnt: „Ein‘ feste Burg ist unser Gott.“ Kein Wunder, wenn‘s der deutsche Bürger und Bauer hier so schnell und freudig nachsang.

Kommen die Tage, die dem Menschen nicht gefallen, und fühlt sich der Bauer matt und altersschwach, so teilt er den Kindern das Erbe zu und zieht sich ins hintere Stübchen zurück. Hier verbringt er, auf einen engeren Kreis der Tätigkeiten beschränkt, den Rest seiner Tage. Zuletzt kommt die Zeit, wo er nach schwerem Tagewerk zur Ruhe eingeht. Hat er die Seele ausgehaucht, so holt die treue Lebensgefährtin das Bräutigamshemd, das er am Hochzeitstage trug, und schmückt zum letzten Mal den treuen Gatten mit dem Erinnerungszeichen an bessere Tage. Aus ihrer Hand empfängt der Nachbarvater den Taler oder Dukaten, den er zum Pfarrer trägt für die Leichenrede, die sich der Verstorbene einst bei ihm bestellte. Die Nachbarschaft geleitet ihn zu Grabe. Auf seinem Grabhügel lässt er sich vielleicht dieselbe Inschrift setzen, die den Giebel seines Hauses schmückt:

„Einst seh‘ ich an der Laufbahn Ende
Auf meine Tage fröhlich hin
Und sage: Herr, durch deine Hände
Empfing ich, was ich hab‘ und bin.
Hier ist mein Tagewerk! Nicht mein,
Dein ist der Ruhm, die Ehre dein!“

(Schluss)