Eine Chance mit „Bear Again”

Auf Besuch bei der einzigen Auffangsstation für Braunbärwaisen in Europa

Viele Bärenjungen finden im Reservat ein Zuhause. Foto Bear Again

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die rumänischen Medien über Bären-Vorfälle berichten. Letzte Woche kursierte ein Foto von einem Bären, der im Fogarascher Gebirge auf ein Auto geklettert ist, auf Facebook. Im Januar machte ein Bär aus Predeal sogar in den amerikanischen Medien Schlagzeilen, nachdem er einem Skifahrer auf einer Piste nachgelaufen ist. Bär und Mensch begegnen sich immer wieder. Abholzung, Wilderei und Lebensraumverlust haben dazu geführt, dass Braunbären bedroht sind. Um weiterhin als Art zu existieren, sollten sie so weit wie möglich von menschlichen Siedlungen leben. Doch wie kann man Begegnungen zwischen Bär und Mensch so weit wie möglich verhindern? Die Antwort liefert „Bear Again“, die einzige Auffangsstation für Braunbärwaisen in Europa, die sich in der kleinen Stadt Bălan am Fuße des Haschmasch-Gebirges befindet. Hier versucht man junge Bären so aufzuziehen, dass sie den Kontakt mit den Menschen in Zukunft eher meiden werden.

Eine große Leidenschaft

„Wir geben keine Interviews“, erklärte uns im Februar ein Mitarbeiter von „Bear Again“ am Telefon. Unser Plan war, eine Reportage beim Bärenwaisenhaus zu machen. Monate später beschließen wir, trotzdem nach Bălan zu fahren. Die Stadt liegt in einem Tal, umringt von hohen Bergen, 40 Kilometer weit von Szeklerburg/Miercurea Ciuc. Die wunderschöne Gegend im Kontrast zu den kommunistischen Wohnblocks - die wir auch in einem Spielfilm gesehen hatten, der hier vor wenigen Jahren gedreht wurde - hat uns fasziniert. Als wir an einem regnerischen Tag Ende Juli in die ehemalige Kupferbergbau-Stadt einfahren, fühlt es sich wie in einem Science-Fiction-Roman an: es scheint, dass die Zeit hier vor wenigstens 20 Jahren stehengeblieben ist. Wir fahren an den grauen Wohnblocks vorbei und bemerken verwundert, dass trotz Arbeits- und Perspektivlosigkeit viele junge Leute in der Stadt wohnen. Und noch etwas bemerken wir: dass die Leute hier sehr nett und hilfsbereit sind. Als wir nach Leonardo Bereczky, dem Gründer des Bärenwaisenhauses nachfragen, zeigen sie uns einen Weg, der in den Wald führt. Man warnt uns, dass der Weg schlecht ist. Ein alter Traktor fährt an uns vorbei, mit Tannenzweigen beladen. Im Anhänger sitzen etwa 15 singende Männer mit Bierflaschen in der Hand. Sie winken uns zu. Eine Frau erklärt uns, dass sie im Nachbardorf mit den Tannenzweigen das Haustor der Braut schmücken müssen. Mitten im Wald finden wir dann das Haus, wo Bereczky wohnt. Wir hoffen, dass er trotzdem mit uns reden wird. Der Empfang war viel freundlicher als wir es uns vorgestellt haben. Er meint, dass wir „Leo“ zu ihm sagen können. „Wenn ihr schon den ganzen Weg bis her gefahren seid, können wir uns unterhalten. Aber ihr seid Glückspilze: normalerweise spreche ich nicht mehr mit der Presse. Die verfälscht oft das, was ich sage“. In seiner kleinen Holzhütte kocht er uns einen Tee und erzählt und wir fangen an, Fragen zu stellen. Das Bärenwaisenhaus hat Leo vor über 20 Jahren aus Leidenschaft gegründet, „weil alles, was von Dauer ist, mit einer großen Leidenschaft beginnt”. Seine Liebe für Tiere und Natur kommt daher, dass er in Bălan aufgewachsen ist, wo sein Vater als Forstwache tätig war. „Eines Tages ist er mit drei Bärenjungen nach Hause gekommen. Ich habe sie großgezogen. Sie wurden zu habituierten Bären, also Bären die in Menschen bewohnten Gegenden ihr Futter suchen. Ich habe viel Zeit mit ihnen verbracht und ihr Verhalten studiert. So ist mir klar geworden, dass die wichtigsten und wesentlichen Faktoren, die ihr Überleben sichern, nicht von der Mutter erlernt werden, sondern genetisch codierte Informationen sind, mit denen sie geboren werden. Wenn zum Beispiel ein kleiner Bär an einem großen Stein vorbeigeht, wird er diesen Stein instinktiv umwerfen, um nach Nahrung zu suchen. Ebenfalls baut er seinen Bau für den Winterschlaf alleine, das muss er nicht von der Mutter lernen. Bei jedem Geräusch, zum Beispiel wenn jemand auf einen Ast tritt, flieht er aus Instinkt auf einen Baum. Das ist seine Art, von großen Bären zu flüchten, weil diese kleinere Bären töten. Auf diese Weise regelt sich ihre Population. Das Futter und die defensive Haltung sichert ihnen also das Überleben im Laufe der Zeit. Jedes Jahr werden 15-20 Bären zu Waisen, weil die Menschen immer tiefer in die Natur eindringen und unsere Habitate sich praktisch überschneiden. Wir müssen uns das ganze Habitat teilen“. Leo hat Sponsoren gefunden, die seine Idee unterstützt haben, und so ist vor 20 Jahren das erste und einzige Bärenwaisenhaus im Südosten Europas entstanden.

Wie kommt es, dass ein Bär zum Waisenkind wird?

Dieses Jahr leben 32 Bären im Waisenhaus, davon sind 11 von letztem Jahr. Die Bärenbabys kommen aus verschiedenen Gegenden Rumäniens - Harghita, Predeal, Maramureș, demnächst auch aus Weißrussland, weil das Projekt für ganz Europa offen ist. „In 90% der Fälle handelt es sich um Bärinnen, deren Bau von Menschen gestört wird. Das passiert oft im März/April, wenn sie ihre Jungen noch nicht schleppen können. Dann liegt der Bau unter Schnee und die meisten Bärinnen verlassen ihn. Sehr wenige kehren in der Nacht zurück und schleppen die Jungen einen nach dem anderen weg. Es gab Fälle, wo die Bärenfamilie einen Fluss überqueren musste und die Mutter von der Flut weggeströmt wurde. Oder sie werden von einer Lawine erwischt. Oder die Mutter ist in einem Autounfall ums Leben gekommen“, erklärt Leo. Im Waisenhaus werden die kleinen Bären wieder aufgepäppelt, gefüttert und gepflegt, bis sie wieder in die Wildnis zurückkehren können. Nachdem ein kleiner Bär nach Bălan kommt, durchläuft er mehrere Stationen auf dem Weg in die Freiheit. Er lernt die anderen Bären kennen, gewöhnt sich an das neue Umfeld, verbringt den Winter schlafend in einem Waldstück und lebt in letzter Phase in einem Gehege, das einem Wald ähnelt, wo er lernt, sein Futter selbst zu jagen. „Wir haben es gemerkt: die wichtigste Rolle der Mutter ist, die Jungen zu schützen. In der Regel sorgt sie zwei Jahre lang auf die kleinen Bären. Das macht auch das Gehege“. In der letzten Phase wird der Bär in die Freiheit entlassen. Der gesamte Zyklus dauert zwei Jahre. Dabei lernen die Bären, ohne Kontakt zu den Menschen selbstständig nach Futter zu suchen. Doch manchmal kehren sie ins Gehege zurück. „Der Teenager zieht zwar von zu Hause aus, er kommt aber oft zu Besuch,weil es hier kostenloses warmes Essen gibt”, scherzt Leo.

Mit Drohnen gefüttert

„Der Bär ist ein überaus intelligentes Wesen und ist genauso oportunistisch wie der Mensch. Es ist kein Zufall, dass nur zwei Arten alle existierenden Habitate besetzt haben: von den arktischen Gegenden bis zu der Wüste und den Regenwäldern: der Mensch und der Bär. Nur diese zwei Arten konnten sich an alle Habitat-Typen der Welt anpassen. Ebenfalls ähnelt die Diät und die Benehmensweise, wie er an Nahrung kommt, auch stark dem Menschen”, erklärt Leo. Seine Doktorarbeit hatte als Thema das Verhalten von jungen Braunbären. Damit die Bären erfolgreich ausgewildert werden, versuchen die Pfleger, möglichst wenig Kontakt zu den Tieren zu haben. Dabei hilft moderne Technik - sie werden mit Hilfe von Drohnen gefüttert. Direkt nach der Ankunft im Waisenhaus ist es noch nicht möglich - es sind kritische Monate, in denen es wichtig ist, ihren Gesundheitszustand dauernd zu kontrollieren. Sobald sie jedoch feste Nahrung zu sich nehmen, verringert man den Kontakt zu ihnen und beobachtet sie aus der Entfernung. Mit der Drohne wird das Futter au seiner Höhe von 100 Metern über dem Gehege abgeworfen und verteilt. So stellen die Bären keine Verbindung zwischen dem Futter und den Menschen her. Und auch die Arbeit der Pfleger wird enorm erleichtert. Früher mussten sie nachts mit Rucksäcken voller Futter ins Gehege schleichen, damit es die Bären nicht bemerken. Zurzeit arbeiten Leo und sein Mitarbeiter an einem Seilbahnen-System, mit dem man die Tiere noch leichter füttern kann als mit der Drohne.

„Der Bär greift nicht an“

Dann kommen wir zum Thema „Bergwandern und Bären”. Viele Leute fürchten sich immer mehr, ins Gebirge zu gehen, da überall Bären sind. Leo meint, dass es keinen Sinn hat, Angst zu haben. „Die Chance, von einem Auto überfahren zu werden ist größer als die, von einem Bären angegriffen zu werden. Der Bär greift nicht an. Der Bär wehrt sich. Das sind zwei komplett verschiedene Aspekte. Der Bär wehrt sich, der Bär fürchtet sich, und den Angriff sieht er als die letzte Chance, zu entkommen. Ab und zu passieren Unfälle”. Weshalb vergeht jedoch kein Tag ohne eine Bären-Nachricht? Leo meint, dass die Medien nicht immer darüber berichten, was sich im Hintergrund dieser Unfälle befindet. ‘Da gab es eine Nachricht: <Ein Bauer ging neben dem Maisfeld spazieren und wurde von einem Bären angegriffen>. Ich habe mit einem Nachbarn dieses Bauers geredet und dieser hat mir erzählt, dass der Mann mit Steinen nach dem Bären geworfen hat‘. All diese Unfälle passieren, meinen wir, weil man zu viel abgeholzt hat und der Bär kein Habitat mehr hat. Doch Leo erklärt, dass der Grund viel komplexer ist und auf Urbanisierung zurückzuführen ist: „Vor 100 Jahren gab es keine Storchennester auf den Dächern der Dörfer. Es handelt sich um Urbanisierung, und das bemerkt man nicht nur bei den Bären, sondern auch bei anderen Tier- und Vogelarten. Der Bär hat gemerkt, dass er unter Menschen in Sicherheit ist, weil keine großen Exemplare in von Menschen bewohnte Ortschaften kommen. Die großen Bären sind ja bekanntlich die größten Feinde der kleineren Bären. Man sagt dauernd, dass die Bärenpopulation stark gestiegen ist. Dann hätte ich hier im Wald mehr Bären sehen sollen, ich sehe aber nicht mehr als vor 20 Jahren. Man sieht mehrere Bären, weil die Urbanisierung beschleunigt wurde. Der Bär versucht nicht mehr, dem Menschen aus dem Weg zu gehen wie früher. Weil der Mensch immer öfter in seinem Habitat, dem Wald, auftaucht, und er hat sich an den Menschen gewöhnt. Es wird dauernd abgeholzt, und die Bären werden einerseits gestört, andererseits gewöhnen sie sich an den Menschen. Dann hat sich auch der Tourismus in Rumänien sehr chaotisch entwickelt. Die Menschen fahren mit den ATVs im Gebirge herum, die Menschen sammeln Pilze, die Menschen bauen Hütten und Restaurants mitten im Wald. Die Natur hat eine Antwort darauf: sie passt sich an. Auch wenn man in der Nähe einer Tramlinie wohnt, kann man anfangs nicht schlafen, weil die Tram am Fenster vorbeizieht und Lärm macht. Nach einer Zeit gewöhnt man sich jedoch. Das macht auch der Bär“. Wie kann man jedoch verhindern, dass Vorfälle mit Bären passieren? Leo antwortet pessimistisch: „Wie kann man Autounfälle verhindern? Indem man kein Auto fährt. Wie kann man Bären-Unfälle verhindern? Indem man keine Bären mehr hat.“

„Wenn man Glück hat, sieht man sie manchmal”

Ohne Volontäre wäre es für das kleine Team bei „Bear Again“ sehr schwierig. Die Hamburgerin Nadia Müller, deren Traumberuf Tierärztin ist, hat vom Projekt während eines Besuchs in Rumänien erfahren und sich sofort beworben, um als Freiwillige mitzuhelfen. Gemeinsam mit Leonardo und seinem Kollegen hat sie Zäune gebaut, Gehege repariert, einen Platz geschaffen, wo Batterien im Winter in sicheren Umständen gelagert werden können, damit sie nicht unterkühlen. „Es ist viel physische Arbeit, die Spaß macht. Es ist ein tolles Gefühl, wenn wir es geschafft haben. Ich bin stolz auf unsere Arbeit” sagt sie mit Begeisterung. Nadia hilft auch im Seilbahn-Projekt fleißig mit. Auch wenn sie die Bären eher selten trifft, erfreut sie der Gedanke, dass sie sich für die Tiere, die in ihrem Heimatland ausgestorben sind, einsetzen kann. Meist sieht sie Bären nur bei Umsiedlungs- oder Rettungsaktionen, das heißt beim Abholen der Tiere von den zuständigen Behörden und während des Transports bis ins Reservat. Da ist sie meist mit der Videokamera dabei und dokumentiert den Prozess. Gerne erinnert sie sich an ein winziges Bärenjunges, das sie mit der Flasche füttern durfte, oder an einen kleinen Bären, den Leo aus einem Baum herunterholen musste. Auch an Bärengeschwister, die betäubt werden mussten, um ins Waisenhaus gebracht werden zu können. Doch eines der Bärenjungen hat es ihr besonders angetan. „Es waren zwei Bärengeschwister, die wir abgeholt haben. Dem einen ging es schlecht. Er hatte Krämpfe während der Fahrt, der andere war fast tot. Es war schwer, das anzusehen. Ich hätte nie gedacht, dass er wieder auf die Beine kommt. Doch nach der Behandlung geht es ihm wieder gut”, erzäht sie. Außer Bären hat die Jugendliche die große Überraschung gehabt, Luchse, Wölfe und Hirsche hautnah im Haschmasch-Gebirge zu erleben, wo sie gerne wandert. Sie ist manchmal mit Bekannten oder Freunden unterwegs und oft auch alleine. Die Freizeit verbringt sie auch beim Angeln oder in einer ungarischen Tanzgruppe. Das Interesse für diese Tänze hat sie von ihren Eltern geerbt, die seit vielen Jahren in Deutschland tanzen und vor langer Zeit auch in Bălan aufgetreten sind. Damals haben sie Freundschaften geschlossen, die noch heute bestehen. Nach einem Jahr Freiwilligendienst zieht Nadia nun wieder nach Hamburg zurück. Sie hofft, Tiermedizin in München zu studieren. „Ich werde bestimmt wieder auch nach Bălan kommen”.

Das Projekt aus Bălan wird vor allem mit Hilfe von Spenden finanziert. Hauptunterstützer ist der WWF, durch das Projekt Life EuroLargeCarnivores. Das Ziel ist, bestehende Lösungen für das Zusammenleben mit Wildtieren bekannter zu machen. Mehr Informationen über Spende-und Unterstützungsmöglichkeiten auf www.bear-again.com.