Familien- und Zeitgeschichte

Zur Kronstädter Aufführung von Elise Wilks „Verschwinden“

Am anschließenden Bühnengespräch beteiligte sich auch Elise Wilk (3. von links)

Das mit großem Interesse erwartete neuste Theaterstück „Verschwinden“ von Elise Wilk wurde am Mittwoch, dem 4. März, vor einem vollen Saal in Kronstadt, in dem Kulturzentrum „Redoute“, in ungarischer Sprache (mit rumänischer Übertitlung) aufgeführt. Der lang anhaltende Schlussapplaus galt gleichermaßen der Theaterautorin, sowie den auf der Bühne Mitwirkenden: die vier jungen Schauspieler und Schauspiele-rinnen vom Neumarkter Studio Yorick: Bajkó Edina, Tóth Zsófia, Scurtu David, Szabó János Szilárd, Regisseur Aba Sebestyén  (der auch zwei der Bühnengestalten spielte), die hierzulande in den 1970er und 80er Jahren auch durch ihre Filmrollen bekannte Enikö Szilagyi, die nun Jahrzehnte nach  ihrer Auswanderung ein gelungenes Wiedersehen mit der hiesigen Theaterszene feiern konnte, sowie die zwei Cellisten (Domahidi Kata und Vilhelem András), die live die von Cári Tibor  eigens für dieses Stück komponierte Bühnenmusik boten. Die Autorin und die Schauspieler stellten sich anschließend einer Gesprächsrunde, die Robert Elekes moderierte.
„Verschwinden“ ist ein Auftragsstück, das Elise Wilk auf Vorschlag von Aba Sebestyén schrieb, als Beitrag für das von der Verwaltung des rumänischen Kultur-Landesfonds mitfinanzierte Projekt „Interkultureller Dialog vermittels zeitgenössischen Theaters“.
Vorgegeben war als Grundthema der Begriff „Migration“. Elise Wilk entschied sich für ein Stück, das das Schicksal einer fiktiven siebenbürgisch-sächsischen Familie ab 1945 bis zum EU-Beitritt Rumäniens beschreibt. Die Folgen der Russlanddeportation, die Jahre des kommunistischen Regimes und die Auswanderung nach Deutschland sind drei prägende Phasen im Leben von Kathi, meisterhaft dargestellt von Enikö Szilagyi, sowohl als junge, lebensfrohe Frau als auch als Alte mit Verwirrungszuständen. Szenisch werden die drei Lebenseinschnitte durch Rotieren der Wohnzimmer-Drehscheibe angedeutet: ein Zimmer mit einem Fenster, das für den Bezug zur Außenwelt steht, und mit Mauern aus Kettengardinen – ein Symbol sowohl für eingeschränkte Freiheit und allgegenwärtige Überwachung im Kommunismus als auch für den Eisernen Vorhang (Bühnenbild: Beáta Sós). Der drückende entbehrungsreiche Alltag im kommunistischen Regime wird ersichtlich durch das Suchen von Abhörgeräten im Haus, durch Witze über den Mangel z.B. an Wärme, Lebensmitteln oder über den Personenkult um Ceau{escu. Im Januar 1945 trennt die Deportation, eine Extremform der Migration, Kathi von ihrem Verlobten Max und anderen Familienmitgliedern und zwingt sie zu einer Heirat mit ihrem rumänischen Bekannten Paul, um nicht nach Russland verschleppt zu werden. Elise Wilk ist es gelungen, auch dank einer eingehenden Dokumentation zu diesem tragischen Schicksalsschlag der Rumäniendeutschen, in wenigen aber treffenden Worten Leid und Schmerz der Betroffenen anzusprechen, ohne dabei pathetisch zu werden, auf die Tränendrüse zu drücken. Es fehlt nicht an gefühlvollen Einstimmungen auf jene düsteren Jahre; die eine oder andere sarkastisch-witzige Pointe sorgt für Lachen. Das tiefgründige Stück weist zum Teil grausame und schonungslose Akzente auf. Dass aber  Lyrik und Humor dennoch immer wieder  durchbrechen können, machen Elise Wilk zu einer der wenigen wirklich wichtigen jüngeren rumänischen Theaterautorinnen und -autoren, unterstrich beim Publikumsgespräch Enikö Szilagyi, die auch hervorhob, dass die Mitarbeit an diesem Projekt ihr viel Genugtuung und Freude bereitet haben.
Der letzte Teil dieser Familiengeschichte bringt uns praktisch in die Gegenwart. Ein Teil der Ausgewanderten kommt in die alte Heimat zu Besuch, bringt billige Geschenke mit, schwelgt in Erinnerungen an die alten Zeiten, streitet um Geld und Haus. Kathi soll verheimlicht werden, dass Edgar gestorben ist. Sie selber wirkt absent und scheint in ihrer eigenen Welt zu sein. Solange ein Verstorbener in der Erinnerung der anderen bleibt, ist er nicht endgültig verschwunden, heißt es im Stück.
„Verschwinden“ nutze Elemente von Brecht‘s epischen Theater, stellte Robert Elekes im anschließenden Bühnengespräch fest.  Sebestyén gab ihm Recht, ging aber mehr auf die Herausforderungen ein, die die jungen Schauspieler zu meistern hatten. Siemussten Mitglieder einer anderen Ethnie verkörpern, über die sie anfangs nicht viel wussten. Das gilt auch für die Jahre des Kommunismus – für nach 1989 Geborene eine schwer vorstellbare Zeit, der sie in der Regel auch geringes Interesse entgegenbringen.
Ihre schauspielerische Leistung war überzeugend – ein entscheidender Beitrag, „Verschwinden“ zum Erfolg zu verhelfen. Denn die komplexe Textstruktur mit vielen Gestalten, deren familiäre Zuordnung zueinander nicht einfach ist (hinzu kommen verschiedene Zeitebenen und Stimmen von Verstorbenen oder Noch-nicht-Geborenen) ist keine leichte Kost. Angesprochen werden auch eine Vielfalt von weiteren Themen, die an und für sich Stoff für ein weiteres Stück sein könnten. Einige Beispiele dazu: der Securitate-Spitzel in der Familie und seine Gewissensbisse; die Vereinsamung in der heutigen Gesellschaft, Vorurteile gegenüber Homosexualität und AIDS, Schuldgefühle gegenüber in Russland Gestorbenen, die als „Ersatz“ für Versteckte oder Geflohene verschleppt wurden. In dieser Verflechtung von Geschwistern, Kindern, Onkel, Tanten, Verlobten und Ehefrauen brechen auf diese (vor allem im letzten Teil) recht viele Probleme ein.
„Verschwinden“ ist aber das Hauptproblem für die Überlebenden oder in der Heimat Gebliebenen, für die Minderheit, für die Familie. Es kann endgültig oder zeitweilig sein. Es bereitet Leid und verwandelt die Betroffenen zu Opfer. Das könnte eine mögliche Aussage dieses Theaterstückes sein, dem man, im Zeichen des interkulturellen Dialogs, mög-lichst viele Aufführungen und Zuschauer wünschen sollte. Warum nicht (wenn es Finanzierung und Exklusivitätsrechte ermöglichen) auch in der rumänischen Originalfassung. Eine deutsche Übersetzung wäre, nicht nur vom Thema her, ebenfalls wünschenswert.