Fremde Nachbarn (II)

Zwischen Diskriminierung und Integration: Roma in Rumänien

Auf in den Westen – oder gibt es eine Perspektive vor Ort? Diese Frage stellen sich auch Roma-Familien.

Mit viel Kraft und Geschick bearbeitet Olga die Bestellung aus Deutschland.

Der kleine Rareş präsentiert Filzmode und Brombeermarmelade aus dem Dorfladen.

Ungewöhnliche Trockenware: Die frisch eingefärbte Schafwolle wartet auf ihre Weiterverarbeitung.
Fotos: Anna Brixa

Besonderes Augenmerk richtet man im Verein „Viscri începe“ auf die Zukunft der Dorfbewohner. Nicht nur durch Hilfe zu Selbsthilfe, wie im Sockenprojekt, sondern vor allem auch mit der Schaffung von Bildungschancen für Jugendliche. Denn die Analphabetenquote bei den Roma – auch dies hat leider Tradition – ist nach wie vor sehr hoch. Zur Jahrtausendwende konnten 44 Prozent der Männer und 59 Prozent der Frauen weder lesen noch schreiben. Und auch die Schulpflicht sei nach 1990 sehr liberal gehandhabt worden, berichtet Annette Schorb, eine der Leiterinnen von „Viscri începe“. Nach der Einrichtung einer Hausaufgabenbetreuung seien schon mehr Kinder zur Schule gegangen; daraufhin wurde auch ein Schulbus organisiert, für dessen Kosten zur Hälfte die Eltern und zur Hälfte der Verein aufkommen. Mittler-weile gehen in Deutsch-Weißkirch nur 3-4 Kinder nicht in die Schule. Früher ging fast keines.

Bildung als Schlüsselqualifikation für eine spätere Ausbildung, für bisher verschlossen gebliebene Berufschancen, für die individuelle Entfaltung. Das ist eine Entwicklung, die nach  jahrzehntelanger Diskriminierung Zeit braucht. Noch scheint es ein großer Schritt vom Analphabetismus bis hin zur Hochschulbildung zu sein, doch die Kinder aus Deutsch-Weißkirch sind auf einem guten Weg. Beziehungsweise: Sie wurden in den richtigen Bus gesetzt.  
Ein weiteres Projekt, das nach anfänglichem Zögern von den Frauen im Dorf sehr gut aufgenommen wurde, ist das Angebot kostenloser Empfängnisverhütung und frauenärztlicher Untersuchungen. In Zusammenarbeit mit einer Partnerorganisation in Kronstadt werden regelmäßige Fahrten zu einer dort ansässigen Frauenärztin ermöglicht, die das Einsetzen der Spirale sowie Krebsvorsorge anbietet, auch andere gesundheitliche Probleme thematisiert – und vor allem die Frauen mit ihren ganz individuellen Sorgen ernst nimmt.

Der Verein hat – genau wie auch der Mihai Eminescu Trust – den Anspruch, im Dorf etwas zu verändern und dabei gleichzeitig vieles von dem, was einmal war, zu erhalten. So wird auch versucht, den heutigen Einwohnern von Deutsch-Weißkirch die Lebensweise der Siebenbürger Sachsen nahezubringen. „Dass man mit Erfolg probiert, das Dorf zumindest von außen zu erhalten, ist wunderschön. Das ist das Eine“, meint Annette Schorb. „Aber dieser Anspruch, wie die Siebenbürger Sachsen zu leben… wenn man es mit der Tradition halten will, dann müssten ja erst einmal alle Bäder wieder ausgebaut werden. Und die Satellitenschüsseln müssen schließ-lich auch irgendwohin…“. Selbst vor Deutsch-Weißkirch, in dessen friedlicher Idylle man sich wie ein Jahrhundert in der Zeit zurückgversetzt fühlt, macht eben die Moderne mit all ihren Errungenschaften nicht halt. Und seine so unterschiedlichen Einwohner müssen ganz individuelle Entscheidungen treffen, inwieweit sie diesen Neuerungen Haus und Hof öffnen.

Die Grenzen zwischen Eingreifen und Geschehen-lassen, zwischen Helfen und Bevormundung sind dabei nicht immer klar abgesteckt. Genauso wenig wie die Grenzen der persönlichen Kraft. Was aber alle Beteiligten zu vereinen scheint, ist neben langfristigen Verbesserungen der Stolz auf die schon heute fertigen Produkte – auf die vielen Socken, Schuhe, Taschen, Hüte und Naturprodukte des kleinen Dorfladens.

Zukunft zum Selberstricken

Einige Besucher kämen sogar ausdrücklich wegen der Schuhe und Socken hierher, berichtet Annette Schorb. Der Filzpantoffel-Verkauf laufe derzeit sehr gut, wobei die Nachfrage an Socken stark nachgelassen habe: „Als die Krise in Westeuropa ausbrach, schlug das hier in Form von nicht verkauften Socken zurück.“ Auch was dieses Projekt angeht, war aller Anfang schwer gewesen. Annette Schorb lacht. Sie habe noch einige dieser Anfangssocken, das seien so seltsame Beutel, mit zwei Nadeln als Lappen gestrickt und dann irgendwie zusammengenäht. Zwei deutsche ehemalige Dorfbewohner, Maria Vesterfeld und Harald Riese, hätten den Frauen in Deutsch-Weißkirch damals erst beigebracht, wie man eine Ferse und eine Spitze strickt.

Denn der Anstoß für das heutige Projekt – das ist auch Mariana und Olga wichtig zu betonen – war von den Frauen aus dem Dorf selbst gekommen. Eine von ihnen hatte 1994 erfolgreich ein Paar Socken bei den deutschen Nachbarn gegen Lebensmittel eingetauscht, andere waren ihrem Beispiel gefolgt, der Berg kunterbunter Socken irgendwann ins schier Unermessliche angewachsen… und so hatte man begonnen, dem bunten Knäuel eine Struktur zu geben.

Wenn heute größere Bestellungen aus Deutschland eingehen – neben dem Verkauf im Dorfladen werden die Handarbeiten auf Weihnachtsmärkten, über ehrenamtliche Helfer und eine Internetseite (www. viscrisocken. insopro.org) vertrieben – werden die Socken in sogenannte Portionen aufgeteilt. Die Menge, die gestrickt werden darf, variiert je nach Lebenssituation der jeweiligen Familie. Zu einem bestimmten Termin, meist nach ca. einem Monat, werden die fertigen Portionen beim Verein abgegeben und das Geld aus ihrem Verkauf jeweils am 1. und 15. des Monats ausgezahlt.

Derzeit sind es 15 Frauen, die im Dorf auch Schuhe herstellen, und zehn weitere haben bereits Interesse angemeldet. Das Filzen ist schwere Arbeit, und die Frauen sind zurecht stolz auf ihre fertigen Produkte. „Wenn es einem selbst gefällt, dann gefällt es auch anderen. Wenn man aber etwas herstellt, was nicht schön ist, dann kauft es auch keiner“, meint Olga. Grundsätzlich könnten die Frauen aus Deutsch-Weißkirch auch eigene Schuhkreationen entwerfen, doch noch scheinen sie nicht allzu viel Vertrauen in die eigene Kreativität zu haben. Und auch die Internet-Käufer setzen dieser individuellen Gestaltung Schranken. „Für den Online-Versand muss immer das gleiche Blümchen auf den Schuhen sein. Wenn da plötzlich eine Tulpe anstelle eines runden Blümchens geliefert wird, gibt es gleich Reklamationen“, berichtet Annette Schorb.

In den Laden jedoch dürfen die Frauen grundsätzlich alles bringen – hier wird auf Kommission verkauft. An jedem Paar Schuhe und Socken hängt ein Zettel mit dem Namen der Frau, die sie hergestellt hat, und jeder Verkauf wird von Mariana säuberlich in ein liniertes Schulheft eingetragen. 14 Paar waren es allein in den letzten zwei Wochen, insgesamt 520 Paar im gesamten Sommer, und dazu kommen noch 700 Paar über den Online-Versand. Die Frauen erhalten 75 Prozent des Reinerlöses, Mariana zehn Prozent für den Ladenverkauf, und den Rest der Verein.

Selbst haben Olga und Mariana keine Filzschuhe. Sie finden das Material, das sie tagtäglich in Händen halten, nicht so angenehm an den Füßen. Dafür trägt der kleine Rareş die Pantoffeln mit doppelter Begeisterung, und zwar gleich als Multifunktionsschuhe: drinnen wie draußen.

Der Dorfladen in Deutsch-Weißkirch – er scheint schon so etwas wie die Wahrwerdung eines kollektiven Traums zu sein. Auch, wenn die Dorfbewohner selbst es viel pragmatischer beschreiben.
Leider existieren rumänienweit nicht viele ähnlich erfolgreiche Initiativen, die neben einer großen Anzahl kleiner Chancen auch diese eine große Chance bieten: nämlich, zu bleiben und sich gegen die oftmals so verlockende Abwanderung in den vermeintlich „goldenen Westen“ zu entscheiden.  

Vereintes Europa – mit kleinen Einschränkungen?

Europa sei bunt und solle es auch bleiben, wird gerne in Bezug auf ein multikulturelles Zusammenleben gefordert. Doch nicht selten werden diese schönen, bunten Bilder – zumindest, was die Roma angeht – überblendet von althergebrachten Vorurteilen. Auch die groß angelegte Berichterstattung über den Fall der kleinen Maria in Griechenland war mit nur wenigen Ausnahmen negativ-abwertend ausgerichtet und basierte auf der Grundannahme des Kinderhandels; einer irischen Roma-Familie wurden sogar die leiblichen Kinder vorübergehend weggenommen, nur weil sie blond waren. Lediglich einzelne Stimmen beanstandeten diese alte und neue Diskriminierung eines ganzen Volkes innerhalb der erweiterten Europäischen Union.

Deren westeuropäische Mitgliedsstaaten sehen sich seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens mit der legalen Einwanderung Zehntausender Roma konfrontiert – darunter auch Deutschland. Diese Entwicklung hat weniger mit deren Selbstbild als traditionelles Wandervolk als vielmehr mit der ganz konkreten Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und Zukunftschancen zu tun. Insbesondere in deutschen Großstädten ist die Präsenz der Roma in Form von U-Bahn-Musikanten, ungebetenen Autowäschern an Verkehrsampeln und bettelnden Kindern in Restaurants und Cafés längst nicht mehr zu übersehen.

Die einmal ferngeglaubte Armut, sie war plötzlich ganz nah. Und stellte auch die amtlichen Behörden vor zunehmende Herausforderungen. Im mittlerwei-le weit über die Berliner Stadtgrenzen hinaus bekannten Brennpunkt Neukölln wurden im Frühjahr 2013 ganze 27 sogenannte „Willkommensklassen“ für schulpflichtige Roma-Kinder eingerichtet, die noch kein Deutsch sprachen. Und der Bedarf steigt nach wie vor, denn mit dem Eintreten der vollen Arbeitnehmer-Freizügigkeit am 1. Januar 2014 wird mit einer noch stärkeren Zuwanderung gerechnet. Damit bleibt die Aktualität der Frage, wie es gelingen kann, diese Tausenden von neuen Einwohnern erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren, von ungebrochener Brisanz.

Auch in Deutschland sind die Roma fremde Nachbarn. Noch. Denn sie werden bleiben – sowohl auf den rumänischen Dörfern als auch in vielen westeuropäischen Großstädten. Es wird Zeit, einander kennenzulernen.