Galeriebesuch in Corona-Zeiten

Ich hatte es mir vorgenommen … und dann das. Die Samstagszeitung machte mit der Nachricht auf: „Am Wendepunkt – Maskenpflicht in der Innenstadt, Kontaktbeschränkungen und Sperrstunde – Corona-Regeln werden verschärft“. Diese Titelzeile hätte an diesem kühlen, verregneten und unfreundlichen Tag in jeder Zeitung der Welt stehen können. Ich habe sie im Ingolstädter Donaukurier gelesen. Und sie hätte mich auch nicht geschockt, wäre nicht in meinem Terminkalender der Besuch einer Kunstausstellung in der Städtischen Galerie im Stadttheater Ingolstadt eingetragen gewesen. 

„Erd-Reich – Arbeiten auf Papier und Objekte“ wollte ich sehen. Arbeiten von Sieglinde Bottesch. „Erd-Reich“. Ich erinnerte mich sofort an meinen Dorfdialekt aus dem Banat. Dort war die Erde die „Erd“. Aber das Erdreich war auch in der Dorfsprache als die Bodenschicht bekannt, die das Wachstum der Pflanzen und Tiere ermöglichte, es durch seine Eigenschaften negativ oder positiv beeinflussen konnte. Daher durfte oder musste ein Erdreich auch schon mal abgetragen werden. Auf jeden Fall wurde es immer mit Hacke, Grabschaufel und Rechen so gut wie nur möglich gepflegt. Ein gutes Erdreich war ein Garant für eine gute Ernte, also Wohlstand.

So und nicht anders dürfte es auch in Siebenbürgen gewesen sein, der ersten Heimat von Sieglinde Bottesch. „Erd-Reich“. Das muss etwas mit Bodenständigkeit zu tun haben. Und mit Arbeit, Arbeit im Erdreich. Obwohl ich die Kunst von Sieglinde Bottesch seit vielen Jahren kenne und schätze, und wohl wissend, dass hier irgendwelche Vergleiche unangebracht sind, taten sich hinter meiner Stirn griffige Landschaften auf, assoziiert mit Namen wie Stefan Jäger und Franz Ferch. Ohne irgendwelcher Kunst-Komparatistik anheimzufallen, war es jedenfalls ein Grund mehr, mich an diesem Tag auf den Weg in die Kunstgalerie unter dem Stadttheater zu machen. „Bitte beachten Sie: Es gelten die Regelungen der aktuellen Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung.“ Das steht auf der Rückseite der Einladung zu dieser Ausstellung. Ich trug Maske und die Frau am Empfang auch. Das war aber dann schon alles an Gemeinsamkeiten. Während ich gut gelaunt und voller Erwartungen den Ausstellungsraum betrat, war sie ängstlich und verfolgte mit sorgenvoller Miene alle meine Bewegungen. Verrückt! Gerade in einer Kunstausstellung sollte man ausgeruhte Augen und die Sinne frei von fremdem Argwohn haben. Auch eine gute Brille ist angebracht. Meine lief sofort an und ich musste sie abnehmen. Das hieß, näher an die Kunstwerke herantreten. Als ich meinen Fotoapparat ansetzte (was hier Gott sei‘s Dank erlaubt war), rutschte mir die Maske unter die Nase. Die aufmerksame Empfangsfrau und gleichzeitige Aufseherin kam sofort auf mich zu: „Bitte tragen Sie die Maske richtig. Leute vom Ordnungsamt sind unterwegs. Das kann Sie 250 Euro und mich einen Verweis kosten. Bitte verstehen Sie mich.“ Und so weiter. 

Oh du selige Pandemiezeit, welch grandiosen Kunstgenuss bescherst du mir … und nicht nur mir! (Das soeben eingetretene Ehepaar war nicht weniger konsterniert als ich.) Und trotzdem hatten die ausgestellten Objekte keine Mühe, meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Ich genoss ihre Erdung. Nicht im Erdreich selber, sondern in der Liebe, in den erotischen Ausstrahlungen, die fast allen Ausstellungsobjekten innewohnen, liegt die Faszination dieser Botteschen Kunst. Man vergisst Corona und kreiert sich eine eigene Gedankenwelt beim Betrachten von „Sämereien“, „Sprösslinge(n)“, „Wesen“, einer „Invasion“ - haben wir schon Urzelnzeit? -, einer „Kapsel“, einem „Ei-Sprung“ und anderen Objekten.
Das trifft auch auf die zahlreichen Zeichnungen zu. Besonders sie (oder die meisten von ihnen) schickten meine Gedanken in einem Antagonismusimpuls kurz zurück in das prüde, unaufgeklärte, stark vom Katholizismus geprägte Leben einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft, die ihre ganze Überlebenskraft aus dem Erdreich ihrer Landschaft schöpfte. Liebe zur Erde ohne körperliche Erotik. Genau das Gegenteil spürte ich hier: spielende Assoziationen mit der körperlichen Liebe. Ich betrachtete, nicht ohne ein leichtes Schmunzeln, eine „Fusion“ - sind das nicht wandernde Spermien? -, einen „Mikrokosmos“, da eine „Struktur“ und dort eine „Interaktion“, auch ein „Insekt“ gehört zu einem gepflegten und gehegten „Erd-Reich“, oder die „Sich öffnende Blüte“. Eine Kunstkritikerin sah in einer mit filigranen Strichen gezeichneten „Frucht“ sogar das „Motiv einer sich öffnenden Vulva“ (DONAUKURIER). 

Es sind 82 Jahre ins Land gegangen, seit Sieglinde Bottesch ins siebenbürgische „Erd-Reich“ hineingeboren wurde. Heute blickt die akademische Künstlerin und Trägerin des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreises (2016) auf ein reiches und überaus vielschichtiges Lebenswerk zurück, dem auch in Zeiten von Corona noch Bausteine hinzugefügt werden. Obwohl man die „Erd-Reich–Arbeiten auf Papier und Objekte(n)“ in Ingolstadt als kleine Retrospektive der letzten Jahre betrachten kann - mit datierten Arbeiten aus den Jahren 2006 bis 2019 -, sind viele Kunstwerke erst heuer entstanden. Auch sie zeigen, dass die Künstlerin Sieglinde Bottesch längst im Erdreich an der bayerischen Donau Wurzeln geschlagen hat. Ihre Kunst kommt nach wie vor an, bei Kritikern und Liebhabern. Das zeigen nicht nur lobende Besprechungen auf den Kulturseiten der lokalen Presse, sondern auch die zahlreichen roten Punkte (verkauft) an den ausgehängten und ausgestellten Werken. Und das schon in der ersten Ausstellungswoche. 

Die Ausstellung kann bis zum 8. November 2020, Donnerstag bis Sonntag, von jeweils 12 bis 18 Uhr besichtigt werden – zu Coronaschutzbedingungen. Es gibt auch einen graphisch hochwertig gestalteten Katalog zu erwerben. Er kostet 15,— Euro. Der Eintritt in die Ausstellung ist hingegen kostenlos.