Im Zeichen des roten Punktes

Festival für zeitgenössische Dramatik feierte den 26. Geburtstag

Schlussszene aus „Dancer in the Dark“ von Patrick Ellsworth (Regie Vlad Massaci). Die neueste Produktion des Kronstädter Dramentheaters war besonders beeindruckend

Aktuell, obwohl es vor mehr als 20 Jahren geschrieben wurde: Family Affairs von Rosa Liksom, Regie Radu Afrim
Foto: Dramentheater Kronstadt

Das erste Smartphone wurde zwar schon 1993 von IBM vorgestellt, wurde aber erst nach 2008 zum Kult. Auf dem Werbeplakat für die diesjährige Auflage des Festivals für Zeitgenössische Dramatik  sind zwei griechische Statuen abgebildet. Jede hat ein Smartphone in der Hand. Trotzdem stammt nur ein einziges Stück, das bei der diesjährigen Edition auf der Bühne zu sehen war, aus dem Smartphone-Zeitalter. Ansonsten konnte man wie immer Stücke aus den 50er  bis 90er Jahren sehen, die meisten von ihnen von Theatern aus Bukarest produziert. Seit 1978 wird das beliebte Festival fast jedes Jahr organisiert. Schon Anfang November warten Kronstädter Theaterbegeisterte darauf, dass bei der Theaterkasse die Tickets zum Verkauf bereit liegen. Obwohl sie nie günstig waren, sind sie innerhalb von wenigen Tagen ausverkauft.

Auch die diesjährige Auflage wurde ein großer Publikumserfolg und schaffte es einiger-maßen  gelungene Produktionen nach Kronstadt zu bringen. Trotzdem hat das Festival nach wie vor einen etwas „verstaubten“ Look. Das kommt davon, dass sich seit Jahren nichts geändert hat: es werden dieselben Theater eingeladen, das Rahmenprogramm ist eher schwach und von hoher Aktualität ist nur auf dem Werbeplakat die Rede. Die Notwendigkeit einer Neuerfindung wird immer dringlicher.

Proteste gegen das Bürgermeisteramt

Die diesjährige Auflage stand nicht nur im Zeichen der Kandidatur Kronstadts für die Kulturhauptstadt 2021, sondern auch im Zeichen des Protests. Wenige Tage vor Beginn des Festivals gab die Leitung des Theaters (Intendant Claudiu Goga, Dramaturgin Oana Borş und Chefbuchhalterin Mariana Hudişteanu), ihren Rücktritt bekannt. Aus Solidarität unternahmen weitere vier Angestellte den gleichen Schritt. Grund für ihre Unzufriedenheit war die problematische Beziehung mit der Leiterin der Direktion für Auslandsbeziehungen, Kultur und Stadtereignisse im Bürgermeisteramt, Cecilia Doiciu, die gleichzeitig auch Mitglied des Verwaltungsrates des Theaters ist.

Als Reaktion auf den Rücktritt des Leitungsteams wurden ihr von Bürgermeister George Scripcaru die Ämter im Kulturbereich entzogen. Trotzdem warnten die Angestellten des Theaters: „damit geht unsere Protestaktion nicht zu Ende!Wir wollen, dass sich das Bürgermeisteramt in unsere internen Angelegenheiten nicht mehr einmischt.“ Als Zeichen des Protests trugen alle Schauspieler während der Aufführungen einen roten Punkt. Derselbe rote Punkt verkehrt im Internet. Schon über 300 Theaterleute aus dem ganzen Land haben sich mit dem Protest der Kollegen aus Kronstadt solidarisiert.

Ein Erfolgsrezept

Ob skurille Familiendramen, leichte Bulevard-Stücke über Beziehungskrisen, schwarze Komödien über die Dehumanisierung in den Großunternehmen- spannend war die Auswahl des Festivals in diesem Jahr auf jeden Fall. In allen Stücken ging es um den Menschen von heute, um seine Einsamkeit, seine Ängste und Träume, seine unerfüllten Wünsche und großen Hoffnungen- sei es ein überforderter Familienvater aus Estland, ein Budapester Intellektueller, der nach Portugal entflieht, ein demenzkranker Mann, der fast sein ganzen Gedächtnis verloren hat, ein junges Junkie-Paar, das am Rande der Gesellschaft lebt oder eine Gruppe gekündigter Topmanager, die ohne ihren Job keinen Sinn im Leben finden - immer stand der moderne Alltagsmensch im Mittelpunkt des Festivals. Auch in diesem Jahr konnte man bekannte Stars  auf der Bühne erleben, darunter Ştefan Bănică Junior, Horaţiu Mălăele oder  Pavel Bartoş. „Es nimmt sich niemand vor, die besten Produktionen des Landes zu bringen. Bei der Auswahl zählen auch andere Kriterien, wie der Bekanntheitsgrad der Schauspieler oder des Theaters“, meint der Intendant und Festivaldirektor Claudiu Goga.

Wie immer hat er bei der Auswahl ein erfolgreiches Rezept angewendet: „bekannte Namen+große Theater“. Im Festival waren neben den Vorstellungen des Gastgebertheaters Produktionen von vier bekannten Theatern aus Bukarest (Odeon, Nottara, Kleines Theater und Komödientheater), von den Nationaltheatern aus Klausenburg und Jassy und vom „Toma Caragiu“-Theater in Ploieşti zu sehen.

Laut Tradition ist das Festival kompetitiv, das heißt, es gibt einen Wettbewerb. Dieses Jahr nahmen drei Produktionen aus Kronstadt, drei aus Bukarest und je eine aus Jassy/Iaşi beziehungsweise Ploie{ti am Wettbewerb teil. Bei den Gastaufführungen handelte es sich um „Family Affairs“ von Rosa Liksom in der Regie von Radu Afrim (Odeon Theater Bukarest), „Portugal“ von Zoltan Egressy in der Regie von Victor Ioan Frunză („Nottara“-Theater Bukarest, „Variationen zum Kraepelin-Modell“ von Davide Carnevali, in der Regie von Alexandru Dabija (Nationaltheater Jassy), „Central Park West“ von Woody Allen in der Regie von Liviu Lucaci (Toma Caragiu-Theater Ploieşti) und „Top Dogs“ von Urs Widmer, Regie Theodor Cristian Popescu (Kleines Theater Bukarest).

Die Minuspunkte sind Jahr für Jahr dieselben

Die Zeit der riesengroßen Produktionen ist längst vorbei und viele der Aufführungen vom diesjährigen Festival finden normalerweise in viel kleineren Sälen statt. In Kronstadt wurden sie jedoch im großen, neu renovierten Saal gezeigt. Deshalb konnte man oft, auch wenn man in den vorderen Reihen saß, nur sehr schlecht hören.

Obwohl es sich um ein Festival der zeitgenössischen Dramatik handelt, wurde nur wenig an das junge Publikum gedacht. An den sieben Abenden des Festivals konnte man kaum junge Leute im Theater sehen. Eine Erklärung dafür ist der hohe Preis der Eintrittskarten für die Gastaufführungen, der bei 45 Lei anfing. Ermäßigte Karten für Schüler und Studenten gab es nicht. Und das, obwohl laut der Umfrage „Studie für Kulturkonsum der Bevölkerung des Munizipiums Kronstadt“ Theaterbesuche für 24 bis 35jährige als wichtig eingestuft wurden.

Man vermisste auch in diesem Jahr ein gut gemachtes Programmheft. Das Rahmenprogramm bestand aus einigen Buchvorstellungen im Foyer. Auf die traditionelle szenische Lesung eines zeitgenössischen Textes hat man auch in diesem Jahr aus unbekannten Gründen verzichtet.

Aktuell und trotzdem nicht zeitgemäß

„Es ist interessant, dass die sozialen Probleme über die man Anfang der Neunziger Jahre sprach, als ich Family Affairs geschrieben habe, auch heute hochaktuell sind. Tierrechte, die marktorientierte Wirtschaft, die Medien, die voll von Boulevardzeitungen sind, der Kollaps sozieller Formen und das Verschwinden der Individualität, die Suche nach Überlebensmethoden und die Klimaänderungen sind heute noch ein Thema“, meint Rosa Liksom, die Autorin von „Family Affairs“. Auch Stücke, die vor fast 60 Jahren geschrieben wurden, wie „Blick zurück im Zorn“ von John Osborne, dessen Kronstädter Inszenierung besonders gelungen war, sprechen über Probleme des Menschen von heute.

Nicht an Themenaktualität fehlt es dem Kronstädter Festival. Auch Stücke aus der Antike handeln  von aktuellen Themen, sonst würden sie nicht mehr gespielt. Es fehlt an „Smartphone“-Inszenierungen, an Stücken aus dem Jetzt, an den neuesten Tendenzen. „Was bedeutet eigentlich Gegenwartsdramatik? Sind es wirklich die neuesten Trends, die man auf der Bühne zeigt?“ Das sind Fragen, die sich die Leitung des Festivals dringend stellen sollte. Das Experiment und das Risiko fehlten auch in diesem Jahr. Nach den ersten 26 Auflagen wäre es vielleicht an der Zeit, dass sich das Festival neu erfindet. Hoffnung dafür gibt es jedenfalls.  Im Januar wird es erneut einen Wettbewerb für den Intendantenposten geben. Vielleicht wird die neue Leitung den Staub abwischen.