Kronstadt im stummen Format

Ein kleiner privater Groll für offene Augen und gespitzte Ohren

Im Rahmen des diesjährigen Enescu-Festivals dirigierte Horia Andreescu, gebürtiger Kronstädter und Ehrenbürger der Zinnenstadt, das Konzert des London Symphony Orchestra (8. September, Sala Palatului).
Foto: www.festivalenescu.ro

„Die schönste Stadt Rumäniens“, wie Kronstadt sich selbst auf Werbebannern beschreibt, oder „die wahrscheinlich beste Stadt der Welt“ („Probably the best city in the world“), wie auf den Terrassenschirmen in der Inneren Stadt verkündet wird, hat eine Gelegenheit verpasst, und zwar „die schönste“ und „wahrscheinlich auch die beste“ Rumäniens zum Herbstanfang: das Enescu-Festival.

Die Informationen auf der offiziellen Webseite www.festivalenescu.ro wenden sich auf den ersten Blick tatsächlich eher an den Konzertbesucher aus der Hauptstadt und nur sehr spärlich an jenen aus der Provinz. Unter „Orte“ („Locaţii“) findet man nur: das Athenäum, Sala Palatului, die Nationaloper, das Nationaltheater, die Aula des Kunstmuseums, den Saal des Rundfunks, die Musikuniversität und, für Freilichtkonzerte, den „Platz des Festivals“. „Typisch Bukarest!“, möchte man sagen.

Jedoch haben auch in Arad, Buşteni, Klausenburg, Craiova, Jassy, Hermannstadt, Neumarkt und Temeswar insgesamt 23 Konzerte stattgefunden. Nur Kronstadt fehlt von der Liste! Unter den sinfonischen Ensembles, welche im Finale des Enescu-Wettbewerbs die Konkurrenten begleitet haben, finden wir das Philharmonische Orchester „Banatul“ aus Temeswar und die Orchester der Staatsphilharmonien „Transilvania“ aus Klausenburg und „Moldova“ aus Jassy. Kronstadt? Leider auch hier abwesend! In Bukarest haben zudem die Chöre aus Arad oder Lugosch, die Orchester aus Neumarkt, Hermannstadt oder Craiova musiziert. Auch da kommt Kronstadt nicht vor!

War das immer so? Nein: Aus der Kronstädter Online-Presse vom 8. September 2009 („Bună ziua Braşov“) erfährt man beispielsweise, dass in der Zinnenstadt im Rahmen der 19. Auflage des Enescu-Festivals nicht weniger als sechs (!) Konzerte stattgefunden haben. Diese wurden zum Teil im Innenhof des Bürgermeisteramtes veranstaltet und umfassten u. a. einen sinfonischen Abend der Kronstädter Philharmonie mit Solisten aus Frankreich, Kammermusik für Cello oder Violine und Klavier sowie ein Gastkonzert des Orchesters „Philarmonia“.

In diesem Jahr – Todesstille unter der Zinne. Sogar für Freilichtkonzerte à la „Platz des Festivals“ waren wir uns in Kronstadt zu schade... Am alten Marktplatz haben zwar – sehr laut und deutlich – das „Fischerfestival Delta der Karpaten Doripesco“ (Festivalul Pescăresc Delta din Carpaţi Doripesco, 9-11. September) oder die Romanian Music Awards (16. September), zwischendurch – leise, aber immerhin! – Konzerte der Kronstädter Philharmonie (7. September) und der Oper (8. September) stattgefunden. Nur die 20. Auflage des Enescu-Festivals scheint kein Echo wert zu sein.

Wieso?

Die Antwort der Philharmonie: „Es geht nicht um Geld. Wir haben keinen geeigneten Konzertsaal und können deswegen auch kein Gastorchester einladen. Wir hoffen, dass die Bauarbeiten am neuen Saal in zwei Jahren abgeschlossen sein werden und dass wir 2013 am Enescu-Festival teilnehmen können.“

Die Antwort der Oper: „Die Einladungen für die Teilnahme der Kronstädter Philharmonie kamen gewöhnlich von ARTEXIM, dem Veranstalter des Enescu-Festivals. In diesem Jahr kam keine Anfrage. Es liegt wahrscheinlich daran, dass es keinen geeigneten Saal gibt. Was die Kronstädter Oper anbelangt, haben wir uns am Enescu-Festival bisher noch nicht beteiligt.“
Meine Antwort: Diese Antworten überzeugen mich nicht. Gab es bisher in Kronstadt einen geeigneten Saal? Wenn ich an Sala Palatului in Bukarest denke, ist das auch nicht gerade ein akustisches Zuckerschlecken; nichtsdestotrotz gastieren hier seit Jahren die berühmtesten Orchester der Welt. Geht es in Kronstadt doch um Geld? Was kostet aber ein Kammermusikabend im Vergleich zu einem mehrtägigen Mittelalterfest oder einem neuen bunt-blumigen Kreisverkehr (deren es genug gibt)? Sollte Kronstadt auf eine Einladung von Bukarest warten? Die meisten lokalen Erfolge tun es nicht! Übrigens wird es auch für die 2013-Auflage bald zu spät sein, denn das Programm steht (fast) fest, wie der ARTEXIM-Direktor am 6.10. in einer TVR-Cultural-Sendung bekannt gab.

Man mag fragen und antworten, so viel man will: Die Enescu-Gelegenheit bleibt für Kronstadt verspielt. Dabei ist dies nur eine von vielen verpassten musikalischen Chancen: das älteste Kammermusikfestival Rumäniens – Marke „Made in Kronstadt“ - hat mit seiner 37. Auflage im Jahre 2009 (unbefristet) aufgehört zu existieren. Das Festival „Cetatea muzicală a Braşovului“, eine private Initiative, hätte in diesem Sommer seine neunte Auflage erlebt, schaffte es aber nicht. Übrigens gilt es nicht nur für Klassik: das Internationale Jazz und Blues Festival ist mittlerweile auch fast vergessen.

Mindestens unser Ego darf sich trotz allem doch noch ein bisschen mitfreuen, wenn es unseren Ohren verweigert wird: im Enescu-Festival 2011 bleibt uns Kronstädtern der geistige Input unserer Musiker übrig, die Auftritte der Pianisten Mihaela Ursuleasa und Horia Mihail, des Dirigenten Horia Andreescu, der Opernsänger Marius Brenciu, Maria Jinga oder Antonela Bârnat auf den (mehr oder weniger geeigneten) Bühnen der Hauptstadt.
Für mich geht es so überhaupt nicht.  Die „wahrscheinlich beste Stadt der Welt“ ist ohne Kultur wie die „wahrscheinlich beste Torte der Welt“ ohne Zutaten: nämlich leer!