Lebendiges Brauchtum Ost wie West anschaulich literarisiert

Zu Joachim Wittstocks Erzählung „Karussellpolka“ Hora Verlag Hermannstadt/Sibiu, 2011, 197 S., ISBN 978-973-8226-98-2

Das reichhaltige Gemeinschaftsleben der Siebenbürger-Sachsen im Karpatenbogen Rumäniens beruht auch auf ihren vor fast 900 Jahren aus der Urheimat zwischen Rhein, Maas und Mosel mitgebrachten Sitten und Bräuchen. Sie brachten nicht nur – sofern sie kirchlich waren – geistige Festtagsstimmung und weltliche Fröhlichkeit, sondern sie dienten auch jahrhundertelang der Identitätspflege in diesem seit Römerzeiten Vielvölkergebiet Siebenbürgen-Transsilvanien.

Wenn auch im Laufe der Zeit die historischen und vor allem die gesellschaftlichen Veränderungen nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen sind und gerade auch durch die industrielle Entwicklung nicht alles weitergeführt werden konnte, blieb doch erstaunlich viel für ein nach wie vor beachtlich reichhaltiges Gemeinschaftsleben bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

Selbst nach der Schicksalszäsur des Massenexodus nach dem Umbruch 1989/90 ging nicht alles verloren, sondern hält sich erstaunlicherweise zum Teil bis auf den heutigen Tag in den weiterbestehenden, allerdings wesentlich kleineren, aber weiterhin wacker um ihre Identität bemühten Diasporagemeinschaften.

Das anschaulichste Beispiel für ein bemerkenswert erfolgreiches Weiterführen eines uralten Brauchs ist wohl das siebenbürgisch-sächsische Urzelnlaufen. Auch wenn es einer Sage nach aus der Türkenzeit stammen soll – eine als Urzel verkleidete Frau Ursula, so gewandet an einen Bären erinnernd, erschreckt in großer Not die Türken zur Flucht –, ist es durch seine Nähe zur germanischen Winteraustreibung wohl viel älteren Datums.

Schon 1978 hatte Joachim Wittstock seine Erzählung „Karussellpolka“ im Dacia-Verlag in Klausenburg/Cluj-Napoca veröffentlicht, weil ihm das in den 70er Jahren erfolgreich wiederbelebte identitätsstiftende Brauchtum der Urzeln so beeindruckt hatte. Wie Altbischof Christoph Klein in seinem Vorwort zu dieser Neuausgabe betont, ging es Joachim Wittstock hierbei auch um eine existenzielle Bilanzierung der Gemeinschaftssituation der Siebenbürger-Sachsen.

In der Tradierung dieses komplexen Brauches über Jahrhunderte hinweg, erlebt sie sich als Gemeinschaftssubjekt eines spezifischen Geschichtsprozesses. Dieser muss immer wieder gegenwärtig Jahr für Jahr stattfinden, um in seiner ganzen Komplexität – von der Überwindung der Schwarzseherei bis hin zur Aufrichtung der Gemeinschaft durch alle kollektiven Katastrophen und persönlichen Schicksalsschläge hindurch – als Gemeinschaftserlebnis identitätsbildend erfasst zu werden.

Dazu gehört nicht bloß die Strategie der gelungenen Gemeinschaftsfindung trotz aller unvorhergesehenen Widerwärtigkeiten, sondern auch die Taktik, in Gefahrenlagen nicht nur Mut und Heldentum an den Tag zu legen, sondern auch für Lebensklugheit, Anpassungsbereitschaft und sogar Opferwillen einzustehen, wie dies auch Altbischof Christoph Klein in seinem Einleitungsessay „Bilanz – Warum? Retrospektive – Wieso?, Betrachtungen zu Joachim Wittstocks Erzählung Karussellpolka“ zeigt.

Überhaupt ist das große Verdienst dieser Neuauflage das Bemühen, Zugänge für jedermann für diese komplexe soziokulturelle Thematik anzubieten durch den bischöflichen Einleitungsessay, die durch den Autor erklärte Aktualisierung dieser Neuauflage auf Grundlage des ursprünglichen Manuskriptes, das nicht umgeschrieben, sondern nur stellenweise ergänzt wurde durch das, was bei der Erstauflage der Zensur zum Opfer gefallen war, obwohl der damalige Redakteur und Lektor, der bekannte rumäniendeutsche Autor und Herausgeber Franz Hodjak erstaunlich viel schon damals durchschleusen konnte und vor allem auch durch das Nachwort zu dieser Ausgabe „Kommentare zum Textgehalt und zum literaturkritischen Echo“ von Horst Fabritius.

Besonders dem Beitrag von Horst Fabritius gelingt es, die Gefahr zu bannen, dass dem nichteingeweihten nicht siebenbürgischen und nicht mit rumäniendeutschen Gegebenheiten und Befindlichkeiten bewanderten Leser doch manches entgehen könnte.

Aufgeklärt durch diese Beiträge erschließt sich jedem Leser, dass Wittstock fiktive Ereignisse aus dem 17. Jahrhundert anspricht, um gegenwärtige Sachzwänge und Problemfelder der siebenbürgisch-sächsischen rumäniendeutschen Minderheit – und darüber hinaus auch generell die Minderheitenproblematik in der Ceauşescu-Diktatur zu thematisieren.

Vor allem gelingt die Kontextualisierung der Identitätsbedrohung einer Minderheit, wenn deren Problematik in drei Zeitebenen miteinander verflochten wird: Dem 17. Jahrhundert mit den Gefahren seiner großen Pest- und Choleraseuchen, die 50er Jahre, die als das beklemmend-bedrückende Jahrzehnt des Stalinismus – „deceniul obsedant“ – bezeichnet wurden und die Gegenwart der Erstauflage, die erste Hälfte der 1970er Jahre.

Die Pest- und Choleraseuchen rafften massenweise Gemeinschaftsmitglieder hinweg, ähnlich wie das Verschwinden zahlreicher Gemeinschaftsangehöriger durch die zunehmende Auswanderung.

Allerdings nicht in den Tod, sondern in die Freiheit des Westens. Die Zurückgebliebenen fühlten sich gerade deshalb zusehends verlassen und verloren und mussten sogar nach dem Ende der kurzen relativ liberaleren Phase Ceau{escus – von seinem Machtantritt 1965 bis zu seiner Kulturrevolution Juli 1971 – um ihre sprachlich-kulturelle Identität kämpfen.
Im Zuge der betont nationalen Gleichschaltung – als „Homogenisierung“ geschönfärbt – wurde sogar der Gebrauch der Ortsbezeichnungen in den Sprachen der Minderheit verboten, die die rumänische Namensform nicht durchscheinen lassen, wie Hermannstadt/Sibiu oder Kronstadt/Braşov, die nur noch rumänisch oder metaphorisch umschrieben genannt werden durften.

Joachim Wittstock bringt diese Bedrängnis in seiner Erzählung geschickt raffiniert zur Sprache, indem er – wie Horst Fabritius mit feiner Ironie herausdeutet – die Handlung sowohl in Agnetheln (das bei seinem Namen genannt werden durfte, da sein rumänischer Name Agnita nahverwandt ist), wie auch im fiktiven Ort Hirselden spielen lässt.

Hirselden kommt sprachgeschichtlich von Hirse-Halden und ist der Name eines Agnethler Rieds. Dieser etymologisch erwiesene Ursprungsname wird von Joachim Wittstock auch als „Pripor de mei“ eine wortwörtliche Übersetzung ins Rumänische benutzt, um sich über diese plumpe Ortsnamenspolitik zu amüsieren. Ganz schön mutig damals, denn wenn es um nationale Belange ging, kannte die Ceauşescu-Diktatur kein Pardon und schlug hart zu.

Die ganze Erzählung ist eine einzige Widerstandsleistung gegen das Dogma der Gefahr des sogenannten Ethnozentrismus. Mit dieser ideologischen Kampfparole wurden diejenigen Vertreter der nationalen Minderheiten Rumäniens stigmatisiert, die sich der brutalen Gleichschaltung durch Ceau{escus sogenannter Homogenisierungspolitik zu widersetzen versuchten. Auf die Spitze getrieben, konnte mit diesem Stalinismusreliktbegriff jede sprachliche kulturelle Minderheitenäußerung reaktionär madig gemacht werden.

Wer in den 70er und vor allem in den 80er Jahren diesen vulgärmarxistisch missbrauchten Ethnozentrismusvorwurf den nationalen Minderheiten Rumäniens machte und somit Ceauşescus brutaler Gleichschaltungshomogenisierungspolitik das Wort redete und Vorschub leistete, wurde entsprechend mit Preisen und Privilegien belohnt. Diese Kontextualisierung der Ortsnamenpolitik Ceauşescus ist für viele Leser eine ganz neue Dimension, die sich aus dieser Erzählung von Joachim Wittstock dank  der sorgfältig editierten und kenntnisreich kommentierten Neuauflage erschließt.

Auch die eigentliche Hauptgestalt der Erzählung, der Reifenschwinger, wird dem Leser in dieser Neuauflage in seiner ganzen Komplexität vor Augen geführt. Einerseits ist einer seiner beiden Namen, Lukas Wächter, historisch verbürgt als der Name eines Angehörigen einer bekannten Agnethler Sippe. Andererseits kann sein zweiter Name Georg Kuchys der eines Landstreichers, Missetäters, ja eventuell sogar der Name eines steckbrieflich gesuchten Mörders sein.

Auf den inneren Rand eines Reifens werden als Höhepunkt des Urzelntreibens Gläser geschichtet, die der Reifenschwinger dann kunstvoll unbeschadet durch die Luft schwingen muss, um Unheil abzuwenden. Gehen sie zu Bruch, kommt Unheil und diejenigen, die sich vorher als Bürgen für das Gelingen dieses schicksalhaften Kunststückes bereitgestellt hatten, gehen auch zugrunde.

In Wittstocks Erzählung misslingt ein erster Versuch, zwei weitere gelingen. Es bleibt allerdings letztlich offen, ob die drei ersten Bürgen beim misslungenen Versuch mit untergingen, also gestorben sind, oder ob dieses nicht eher als symbolisches Verschwinden zu verstehen ist. Auf die Doppeldeutigkeit des Protagonisten Lukas Wächter oder Georg Kutschys übertragen, ergibt sich auch die Mehrdeutigkeit, ob ein Rettungsversuch einer in eine Notlage geratener Gemeinschaft in jedem Fall eine gute Tat sein muss oder aber auch in bestimmten Fällen Ungutes bringt.

Auf jeden Fall gelingt es Joachim Wittstock durch die geschickte Art und Weise, wie er Zeitebenen ineinander überwechseln lässt und Personen aus unterschiedlichen Epochen darin miteinander in Verbindung bringt unter dem Dach des Urzelnlaufes und des Reifenschwingens eine Fülle origineller Deutungsansätze dem Leser anzubieten.

Es ist eine glückliche Fügung, dass gerade 2011, kurz vor dem Höhepunkt der Wiederbelebung des Urzelnlaufes im Winter 2012 in der neuen Heimat Bundesrepublik, in der alten Heimat Siebenbürgen eine so komplex kommentierte und sorgfältig editierte Neuauflage der Erzählung von Joachim Wittstock über diesen uralten Brauch erscheinen konnte.

Es wäre nicht nur sehr schön, sondern auch äußerst angebracht, wenn diese sehr bemerkenswerte Erzählung Wittstocks nun auch in der neuen Heimat Bundesrepublik bekannt gemacht wird. Gerade in jenen bundesdeutschen Ortschaften, in denen dieser uralte Brauch des Urzelnlaufens und Reifenschwingens in die bodenständigen Brauchtumsfeste integriert worden ist.

Dort kann auch Interesse an diesem einmaligen siebenbürgisch-sächsischen Brauch des von Haus aus Bundesdeutschen geweckt werden und damit eine neue lebendige Brücke zwischen alter und neuer Heimat geschlagen werden eingedenk der Worte des rumäniendeutschen Literaturkritikers Emmerich Reichrath, der in einer hier zitierten Rezension über die Erstauflage schrieb: „Immerhin ist Karussellpolka nicht nur das beste Buch aus der nicht eben reichen Prosaernte des Jahres 1978, sondern wohl auch die bisher stichhaltigste Prosa dieses Autors.“

Inzwischen ist Joachim Wittstock mit vielen neuen Veröffentlichungen in den letzten 34 Jahren eine der tragenden Säulen der rumäniendeutschen Literatur in der alten Heimat geworden. Geehrt und ausgezeichnet im In- und Ausland.
Seine „Karussellpolka“ hat auch nach mehr als drei Jahrzehnten nichts von ihrer atmosphärischen Dichte und Deutungsvielfalt verloren. Im Gegenteil, durch diese neue, gründlich kommentierte Auflage,  hat sie bisher nur verborgen kontextualisierte Bezüge zum Vorschein gebracht.