Marieluise-Fleißer-Preis für Iris Wolff

„Einer Schriftstellerin, einem Schriftsteller muss man überhaupt nichts glauben, aber man kann“

Mit diesem für eine Schriftstellerin bemerkenswerten Satz hat Iris Wolff am 24. November ihre Dankesrede zur Entgegennahme des Marieluise-Fleißer-Preises im Foyer des Ingolstädter Stadttheaters beendet. Sie bedankte sich anschließend noch bei ihr familiär und beruflich nahe stehenden Personen und lud das Auditorium zu einem gemeinsamen Umtrunk ein. Eine schöne Geste. Grund dafür gab es genug an diesem sonnigen Herbsttag an der Donau. Anderthalb Stunden vorher hatte die Preisverleihung dieses alle zwei Jahre von der Stadt Ingolstadt ausgelobten Literaturpreises begonnen – mit dem Menuett, op.11 von Luigi Boccherini. Hinter den Notenpulten saßen drei Georgier und ein Rumäne, alle Mitglieder des in Ingolstadt beheimateten Georgischen Kammerorchesters.
Der Marieluise-Fleißer-Preis wurde heuer zum 16. Mal vergeben. Unter den Preisträgern stechen Namen hervor wie Thomas Hürlimann, Gert Heidenreich, Petra Morsbach, Sibylle Lewitscharoff, Christoph Ransmayr und natürlich Herta Müller. Und die hat dem begrüßenden OB Dr. Christian Lösel auch gleich ein verstecktes Fettnäpfchen beschert: Herta Müller ist nämlich keine Siebenbürger Sächsin, wie die Preisträgerin dieses Tages, sondern eine Banater Schwäbin. Aber es war und bleibt immer spannend und auch belustigend, wie die zwei Volksgruppen vor und zwischen den Karpaten im deutschen Sprachraum vermengt werden. Und dass Iris Wolff sowohl in Siebenbürgen als auch im Banat aufgewachsen ist, macht die Sache natürlich nicht einfacher. Sollte jemand darob viel-leicht sogar eine leichte Verstimmung gespürt haben, so wurde er sofort mit einem Salut d’amour, op.12 von Edward Elgar entschädigt. Dafür gibt es ja gute Musik.
Die Laudatio hielt Dr. Klaus Hübner. Der Publizist und Literaturkritiker mit Studien in den Fächern Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft ist Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) der Universität München sowie am Internationalen Forschungszentrum Chamisso (IFC) am In-stitut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München. Ein Mann also, der sich auskennt in Sachen Literatur, Südosteuropa und Geschichte. Und genau da überschneiden sich die Interessensphären des Laudators mit jenen der Preisträgerin.


„Poetische Sprachmusik“
Die Schnittmenge zwischen Laudator und Preisträgerin liegt im „Blick von außen“ und in der  „Empathie für fremd anmutende Kulturen“. Dieser allein ermöglicht eine „interkulturelle Literatur“ im deutschen Sprachraum. Und dazu rechnet Dr. Hübner auch Iris Wolff. Für ihn „ersetzen 100 Fernsehsendungen, die uns mit der Gegenwart und Geschichte Siebenbürgens vertraut machen möchten, nicht die poetische Sprachmusik der Romane Halber Stein, Leuchtende Schatten und So tun, als ob es regnet. Der Laudator sieht das bisherige Śvre der 1977 in Hermannstadt geborenen Iris Wolff als „Gesamtkunstwerk“. Ihre Geschichten sind alle in Siebenbürgen angesiedelt und daher „auch Geschichten von  kulturellem Transfer zwischen Sprachen und Nationen“. Gleichzeitig sind das aber auch universelle Geschichten. Dazu benötigt sie, ihre Literatur, wiederum mehr als Schauplätze, Symbole und Inhalte. Und dieses Mehr besitzt Iris Wolff genauso wie Marieluise Fleißer, die früher geächtete und heute gefeierte Schriftstellerin aus Ingolstadt (1901 – 1974). Gemeinsam ist ihnen ein „dichterischer Umgang mit der deutschen Sprache, manchmal spielerischer und auch verzaubernder“. Der Laudator begibt sich in aller gebietenden Kürze und gleichzeitiger Nachvollziehbarkeit in den poetischen Kosmos Iris Wolffs.  Da geht es um „Erinnerungsorte“, „Bruchstücke aus der Vergangenheit“, „prägende Regionen“, „Dialekt“ und „Mehrsprachigkeit“. Und vor allem um „Heimat“. Hier wurde Dr. Klaus Hübner sehr präzise: „Wenn es um Bedeutung von Heimat geht, dann in einem ganz anderen Sinne wie bei den älteren Generationen. (...) Das ist keine rumäniendeutsche Literatur des letzten Jahrhunderts, das ist nicht Hans Bergel oder Joachim Wittstock, und so ein Verständnis von Heimat werden Sie auch bei der 1953 geborenen Fleißer-Preisträgerin Herta Müller nicht finden.“ Der Kritiker Hübner zeigt sich besonders angetan von Iris Wolffs „poetischem Blick und dessen kongeniale Umsetzung in Sprachmelodien und Satzrhythmen“. Auch diese Charakteristiken ihrer Romane bewegen den Leser zum „Weiterlesen“. Er spricht sogar von einem „Iris-Wolff-Sound“, einer Unverwechselbarkeit ihrer literarischen Sprache. Und er untermauert seine Angaben mit Zitaten und kurzen Nacherzählungen der Romaninhalte. Das Auditorium lauschte gespannt und war zum Schluss dankbar für diese einfühlsame und informative Einführung in das noch junge und schmale Werk der Wahl-Freiburgerin Iris Wolff, studierte Germanistin, Religionswissenschaftlerin, Grafikerin und Malerin. Und der Laudator war sich sicher, dass die neue Marieluise-Fleißer-Preisträgerin „ihren Platz im Literaturbetrieb behaupten wird.“


„Sprache ist immer metaphorisch“
Iris Wolff erzählte einer Journalistin des DONAUKURIER nach der Bekanntgabe der diesjährigen Marieluise-Fleißer-Preisträgerin (Juli 2019), dass sie zwar mit Fleißers Werk aus dem Studium vertraut sei, aber trotzdem „den Preis zum Anlass nehmen will, mehr über Marieluise Fleißer zu erfahren“. Das hat sie auch gründlich getan, wie man aus ihrer Dankesrede annehmen kann. Sie thematisiert aus Fleißers Werk das Bild der „Fluchtwege im Kopf“. Die Fluchtwege der Ingolstädter Schriftstellerin „waren die Literatur, aus dem Mangel in die Fülle, Schreiben ist ja immer beides zugleich.“ Ein Fokus in Fleißers Werk bleibt Ingolstadt. „Ihre literarische Fantasie führte sie immer hierher zurück“, stellt Iris Wolff fest und findet darin den Bezug zur eigenen Biografie: „Ist Ingolstadt nicht genauso exemplarisch wie andere Orte? Liegt in dem Banater Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, nicht die ganze Welt?“ Die Preisträgerin spricht mit einer melodischen, weich klingenden Stimmfarbe. Und das kommt gut an. Besonders, wenn sie sich auf die nicht gerade beneidenswerten Werkrezeptionen und auch Lebensphasen „der Fleißer“, wie die Ingolstädter sie heute noch nennen, bezieht. Wolff bleibt nicht im literarischen Mikrokosmos, sie verlässt ihn und spinnt aus der Kleinteiligkeit ein großes Netz des Weltgeschehens. Dazu bedient sie sich der Wahrheit und Fiktion, malt damit Sprachbilder, die es ermöglichen, „große kausale Zusammenhänge“ mit wenigen Sätzen festzuhalten: „Sprache ist immer metaphorisch.“ Iris Wolff hält in ihrer Dankesrede ein wahres Loblied auf die Metapher. Und sie wählt Zitate aus Gedichten. Die Prosaschriftstellerin! Das schon deutet auf das poetische Klangbild ihrer Romane hin. „Ungewöhnliche sprachliche Bilder helfen, eingespielte Sichtweisen zu verlassen“, ist Wolff sich sicher. Sie bewundert die „Schonungslosigkeit“ Fleißers und wartet mit einer in nur drei Sätzen geschilderten Vergewaltigung aus einem Fleißer-Roman auf: „Er hatte es gar nicht vor. Dann war‘s stärker. Daran ist noch keine gestorben.“ Hier spürt man die Macht der Sprache, vielleicht sogar die des Schreibenden über den Leser. Aushalten ist gefragt. Wolff spricht auch über das Grundsätzliche im Prozess des belletristischen Schreibens: „Literatur macht Unsichtbares sichtbar, verwandelt äußere Begebenheiten in innere Erkenntnisse, setzt dem Vergessen ein Bewahren entgegen, findet neue Bilder für Erfahrungen, bringt die Dinge wieder zum Vorschein, bringt sie überhaupt erst zu Bewusstsein. Schreiben ordnet sich Erfahrungen neu. Wenn ich den ersten Satz zu Papier bringe, das erste Bild einer Geschichte festhalte, habe ich keine Ahnung, wohin mich eine Idee führen wird. Schreiben ist ein schöpferischer Zugang zur Welt. Lesen auch.“ Schöner kann man einen Schreibprozess wohl kaum erläutern. Das funktioniert aber nur, wenn auch der Inhalt eines Textes schlüssig ist. Und dieser Inhalt hat bei Iris Wolff (bisher) einen starken Bezug zu ihrer Heimat, die „einer gewissen Exotik nicht entbehrt“.  Es geht immer um „die Geschichte der deutschsprachigen Minderheit in Osteu-ropa“, wie sie freimütig und mit einem gewissen Stolz in der Stimme bekennt. Und dabei gibt sie den Lesern einen Ratschlag mit auf den Weg, nämlich Bücher zu lesen, die uns fremde Welten vermitteln können. Das bereichert ungemein. Der letzte Teil von Iris Wolffs Rede ist ein bewegendes Plädoyer für das Buch im Allgemeinen, und das schöngeistige im Besonderen. „Literatur ähnelt der Magie. Ein Zauberer kann einen alles glauben machen, dass eine Karte verschwindet und an den unmöglichsten Stellen wieder auftaucht, dass er Gedanken lesen, ein Kaninchen schlucken kann. Die Sehnsucht, getäuscht zu werden, ist groß. Einer Schriftstellerin, einem Schriftsteller muss man überhaupt nichts glauben. Aber man kann.“ Mit Rumänische Tänze von Béla Bartók klang diese Preisverleihung aus. Am Bücherstand mit Werken von Marieluise Fleißer und Iris Wolff bildeten sich Schlangen. Die Preisträgerin durfte sich neben viel Zustimmung auch über eine Urkunde und einen Check mit 10.000 Euro freuen.