Postindustrielle Geschichten

Fotografieausstellung über das Leben in ehemaligen Industriezentren

Jahrmarkt in Petrila
Foto: Marian Raica

Familie Kovary aus Klein-Kopisch hat ein Reh als Haustier. Im Wohnzimmer läuft dauernd der Fernseher. Man schaut indische Serien oder Musikvideos.
Fotos: Ioana Cârlig

Im Sommerurlaub ist Lucian in seine Heimatortschaft Brădet im Kreis Karasch Severin zurückgekehrt. Er lebt und arbeitet in Deutschland. Als er 7 Jahre alt war, ist sein Vater an den Folgen eines Herzinfarkts im Bergwerk gestorben. Seitdem ist Lucian der Einzige, der seine Familie unterstützt. Gina ist 16 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer einjährigen Tochter, ihren Eltern und zwei Geschwistern in dem Gebäude einer ehemaligen Grundschule aus Brad, Hunedoara. Gina hat viele Träume: die 10. Klasse zu absolvieren, damit sie den Führerschein machen kann, nach Italien und Indien zu reisen und sich zu verlieben. Otto ist Mitglied der Blasmusik Anina, die seit 150 Jahren existiert. Nun sind viele Musikanten gezwungen, die Ortschaft zu verlassen, da es hier seit Schließung der Bergwerke keine Arbeitsplätze mehr gibt. Es sind nur drei der vielen Geschichten aus den ehemaligen Industriegebieten Rumäniens. Früher boomte hier der Arbeitsmarkt, heute gibt es nur noch Ruinen. Die Alten leben aus Erinnerungen, die Jungen träumen davon, die kleinen Ortschaften eines Tages zu verlassen.

Der aggressiven Industrialisierung und Urbanisierung während des Kommunismus,als diese Landschaften von Bergwerken, Hütten, Kraftwerken und Werken der Chemieindustrie geprägt wurden, folgte Anfang der 2000er Jahre der plötzliche Niedergang der Industrie. Viele Werke wurden geschlossen, Hunderttausende Menschen wurden arbeitslos. Was bleibt nach der Schließung von Bergwerken und Fabriken? „Post Industrial Stories“, das preisgekrönte Projekt der Fotografen Ioana Cârlig und Marian Raica nimmt sich vor, auf diese Frage zu antworten. Bis Ende des Monats kann die Ausstellung im Multikulturellen Zentrum der Transilvania-Universität, im Parterre des Rektorats auf der Postwiese besucht werden.

Lebensgeschichten zwischen Ruinen

Über 10.000 Fotos haben die beiden Fotografen im Rahmen des Projektes geschossen. Dabei sind sie über 3000 Kilometer quer durchs Land gefahren, haben 60 Ortschaften besucht und viel Zeit mit den Menschen verbracht, die hier wohnen. Nicht wenige Male haben sie für kurze Zeit mit ihnen gewohnt und ihre Lebensgeschichte erfahren. Etwa die der Familie Kovary aus Copşa Mică/Klein-Kopisch, deren Haustier ein Reh ist. Die beiden Fotografen haben mit den Töchtern der Familie gespielt,  indische Telenovellas geschaut und zusammen die Stadt entdeckt. Auch mit Andreea aus Criscior haben sie viel gesprochen. Sie hat an ihrem Technologie-Lyzeum an der Misswahl teilgenommen und sich gewünscht, zu gewinnen. Auch wenn eine andere Kollegin den Miss-Titel gewonnen hat, ist Andreea nicht traurig. Im karierten Mini-Rock und schwarzen Sandalen mit hohem Absatz steht sie stolz vor der Kamera.
Nicht nur Leute haben eine Geschichte, sondern auch Orte. Zum Beispiel „Gura Barza“, ein Cafe mit blau gestrichenen Wänden aus Brădet. Früher war hier ein Bergarbeiter-Klub, danach eine Diskothek und jetzt kann man hier bei Glücksspielen Geld verdienen. Oder das „Dallas“-Arbeiterviertel in Vulcan, das nach der amerikanischen Fernsehserie benannt wurde und wo zehnstöckigeWohnblocks die Landschaft prägen. „Wir erforschen durch unsere Fotos die Verbindung zwischen Mensch und seiner Umgebung, zwischen dem Handwerk, das er erlernt hat und der Identität, die er annimmt“, sagt der Fotograf Marian Raica.

Auf der Suche nach einer neuen Identität

Der industrielle Untergang bringt Arbeitslosigkeit, Armut, Migration der Bevölkerung, Verfall der urbanen Landschaft und eine große Steigerung der Verbrechenzahl mit sich. „Seitdem das Bergwerk geschlossen hat, ist alles tot. Die einzigen, die ein Einkommen haben, sind die Rentner“, sagt  Raica. Für viele Leute ist die einzige Chance, in Italien oder Spanien zu arbeiten und Geld nach Hause zu schicken. „Post Industrial Stories“ dokumentiert das Leben in den ehemaligen monoindustriellen Gemeinschaften, in denen die Leute ihre Identität verloren haben. „Nach Schließung der Fabriken und Bergwerke folgte für die Gemeinschaft eine Trauerzeit. Die Leute werden apathisch, hoffnungslos, nostalgisch“, meint Ioana Carlig, die hinzufügt, dass sie durch dieses Projekt das „soziologische Phänomen der Depression“ dokumentieren wollte.

„Früher ging es uns hier gut, und wer sich für lange Zeit an das Gute gewöhnt hat und dem es dann plötzlich schlecht geht, hat keine Lust mehr, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Als die Minen noch geöffnet waren, gingen die Leute am Vormittag zur Arbeit und am Abend arbeiteten sie zu Hause. In jedem Haushalt gab es Rinder, Schafe, Schweine. In jedem Dorf gab es ein Kino. Im Winter, nachdem die Urlaubssaison zu Ende ging, gab es ein Filmfestival, Theateraufführungen und Konzerte. Jetzt haben die Leute kein Geld mehr, sie haben aber auch keine Lust mehr“, meint der Ingineur Grozea, der früher im Kohlenwerk aus Ţebea gearbeitet hat und sich auch für das Projekt fotografieren ließ. Die Zukunft seines Heimatortes ist noch unklar. Zwischen Fabrikruinen und grauen Wohnblöcken sind die Bewohner gezwungen, eine neue Identität zu finden. Die Ausstellung kann bis zum 31. März, montags bis freitags zwischen 12 und 19 Uhr im multikulturellen Zentrum der Transilvania-Universität besucht werden. Der Eintritt ist frei.