TIFF ist volljährig!

Ein Rückblick auf die 18. Auflage des Internationalen Filmfestivals in Klausenburg

An jedem Abend gab es Filme unter freiem Himmel

Eine alte Dacia als Filmkulisse bei der „Filmfabrik für Amateure“

Ein bemerkenswetes Regiedebüt: „Monster“ von Marius Oltean

Szene aus dem dänischen Film „Königin der Herzen“

Ein heißer Juni-Nachmittag in Klausenburg. Vor dem „Florin Piersic“-Kino auf dem „Mihai Viteazul“-Platz hat sich eine riesige Warteschlange gebildet. Hunderte von Leuten, darunter auch ein paar bekannte rumänische Schauspieler, warten geduldig in der Hitze, mit dem Kinoticket in der Hand. Sie freuen sich auf „La Gomera“, den neuesten Film des Regisseurs Corneliu Porumboiu, der nach der Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes zum ersten Mal in Rumänien gezeigt wird. So ein Anblick ist für das Jahr 2019 eher ungewöhnlich. Heute, in den Zeiten von Online Streaming und Netflix, kann man die Leute nur schwer von der gemütlichen Couch in die Kinosäle locken, um einen Film zu sehen. Doch Filme sind fürs Kino gemacht. Und Warteschlangen vor den Kinos sind auch heute möglich. Dieses Wunder ist dem Internationalen Filmfestival „Transilvania“ zu verdanken. In diesem Sommer feierte TIFF seinen 18. Geburtstag. Und hat wieder einmal bewiesen, dass die Menschen Geschichten brauchen. In diesem Fall Leinwandgeschichten.
Der 18. Geburtstag von TIFF wurde in diesem Jahr zwischen dem 31. Mai und dem 9. Juni ganz groß gefeiert. Unter den Gästen war auch Nicolas Cage. Auf Facebook kursierte ein Foto, das den amerikanischen Star-Schauspieler mit den Angestellten eines Restaurants mit szeklerischen Spezialitäten zeigte. Anscheinend mag er die lokale Küche.

Strömender Regen beim Eröffnungsfilm unter freiem Himmel, übervolle Kinosäle, ein überraschend guter rumänischer Film über ein Tabu-Thema, eine Filmfabrik, wo jeder in nur drei Stunden seinen eigenen Film drehen kann, eine Party neben einem See mit vielen knallrosa Flamingo-Booten, eine Michel-Gondry-Retrospektive, viele Hits der diesjährigen Berlinale,  ein Wochenende im Banffy-Schloss in Bonțida, Filmworkshops für Kinder, von Musik begleitete Stummfilme und wie in jedem Jahr leckerer Spinat mit Spiegeleiern im Restaurant neben dem Victoria-Kino - das waren nur ein paar der vielen Highlights der diesjährigen Auflage.

Und wieder einmal wurden alle Rekorde gebrochen - über 130.000 Zuschauer hatte TIFF in diesem Jahr, es wurden über 200 Filme aus mehr als 50 Ländern gezeigt. Für mich war es das 14. Mal, dass ich das größte Filmfestival Rumäniens besuchte. In einer Woche in Klausenburg habe ich 27 Filme gesehen (darunter 3 Kurzfilm-Serien). Im Ganzen habe ich fast 1500 Minuten im Kinosaal verbracht- das bedeutet mehr als einen Tag.

TIFF das ganze Jahr über

„Das Festival muss weitergehen. Zu jeder Zeit. Online“. Unter diesem Slogan stellte man am ersten Tag des Festivals die große Neuigkeit vor: TIFF Unlimited. Es handelt sich um eine Online-Platform (ähnlich wie Netflix oder HBO Go), wo die Nutzer zu jeder Zeit Filme aus dem Festival oder andere preisgekrönte Kunstfilme sehen können. „Wir wünschen uns, dass so viele Zuschauer wie möglich die Filme des Festivals sehen können. Bei uns gibt es Netflix, Mubi und HBOGo. Doch es gibt Leute, die uns fragen: Ich habe diesen Film beim TIFF gesehen. Wo kann ich ihn wieder sehen? Diese Filme gibt es weder im Kino, noch auf anderen Videostreaming-Plattformen. Solche Filme findet man nur schwer“, meinen die Organisatoren des Festivals.
Wem die Zeit bis zur nächsten Auflage des Festivals zu lang erscheint, kann sich abonnieren. Zur Zeit gibt es auf tiffunlimited.ro 52 Filme, jeden Monat wird die Liste geändert. Ein Monats-Abo kostet etwa soviel wie ein Filmticket: 5 Euro. Unter anderen sind in diesem Monat noch zu sehen: Melancholia (R: Lars von Trier), Son of Saul (R: László Nemes), Marshland (R. Alberto Rodríguez), The Tribe (r. Miroslav Slaboshpitsky), A Separation (R. Asghar Farhadi), Blue is The Warmest Color (R. Abdellatif Kechiche), All These Sleepless Nights (R. Michal Marczak), Rams (R. Grímur Hákonarson). Und für diejenigen, die es in diesem Jahr nicht nach Klausenburg geschafft haben, gibt es ein paar Filme aus der diesjährigen Auswahl:  Woman at War (R. Benedikt Erlingsson), Pause (R. Tonia Mishiali), The Coming Back Out Ball Movie (R. Sue Thomson), Too Late To Die Young (R. Dominga Sotomayor Castillo).

Filmemachen für Amateure

Noch nie war es so leicht, an gute Filme zu kommen. Und noch nie war es so leicht, seinen eigenen Film zu drehen. „Die Filmfa-brik für Amateure“, die vom Regisseur Michel Gondry am ersten Tag des Festivals feierlich eingeweiht wurde, ist ein Ort, wo man seinen eigenen Film drehen kann. Ob Action-Film, Komödie, Musical oder Drama- es steht frei zur Wahl. Der französische Regisseur Michel Gondry entwickelte das Konzept der Filmfabrik bei den Dreharbeiten zu BE KIND REWIND (Abgedreht, USA 2008). Der absurde Plot seines Films: Durch einen Unfall werden alle VHS-Bänder der Videothek gelöscht, in der Mike arbeitet. Also macht er sich mit seinem Kumpel Jerry daran, den gesamten Film-Bestand selbst nachzudrehen. Basierend auf derselben Idee, stellt Gondry auch bei der Filmfabrik die Lust am kreativen, abgedrehten Einfall ins Zentrum. Der für seinen überbordenden Ideenreichtum bekannte Regisseur verspricht den Besuchern der Filmfabrik: „Du wirst diesen Film mögen, weil du in ihm bist“.

Die Filmfabrik hat bisher Kinoliebhaber aus der ganzen Welt fasziniert. Sie war schon in Tokyo, Cannes, Frankfurt, Casablanca und Moskau. Jetzt befindet sie sich in Klausenburg, im Regionalen Exzellenz-Zentrum für Kreative Industrien (CREIC). Dienstags bis sonntags zwischen 11 und 20 Uhr stehen  dem Laien-Filmregisseur eine komplette Ausstattung, 15 Kulissen, hunderte von Kostümen und natürlich auch ein technisches Team zur Verfügung, um seinen Traum zu verwirklichen und einen eigenen Film zu drehen. Falls man sein Talent testen will und in diesem Sommer vorhat, Klausenburg zu besuchen, gibt es eine gute Nachricht- die Filmfabrik ist bis zum 31. Juli offen. Alles, was man tun muss ist, eine Reservierung auf der Webseite uzinadefilme.com zu machen. Hat man reserviert, kann man drei Stunden lang experimentieren, und dafür braucht man überhaupt keine Filmkenntnisse. Nach einem Training, das anderthalb Stunden dauert, muss man den Titel und das Thema des Films wählen. Für die „Dreharbeiten“ hat man dann ein paar beeindruckende Kulissen zur Verfügung, darunter ein Café, voll eingerichtete Wohnräume, ein Zugabteil oder sogar einen Friedhof.

„Die Filmfabrik für Amateure hat sich nie vorgenommen, wie eine Filmschule zu funktionieren. Es handelt sich eher um einen Kontext, der dir Zeit gibt, mit deinen Freunden Spaß zu haben und dir die Chance gibt, deine eigene Geschichte in einen Film umzusetzen. Jeder kann sich hier kreativ ausdrücken“, erklärte Michel Gondry bei der Eröffnung. Was beim spontanen Filmprojekt herauskommt, liegt ganz an den Teilnehmern. Die DVD zum eigenen Film gibt es natürlich mit dazu.

12 Filme im Wettbewerb

Ein neunjähriges Mädchen durchläuft einen Leidensweg zwischen wechselnden Pflegefamilien und Anti-Aggressions-Trainings. (Systemsprenger)
Ein Mann erfährt von seiner Freundin, dass sie schwanger ist, aber nicht von ihm, sondern von seinem besten Freund. Acht Jahre später ist dieser Freund tot und der Mann trifft seine alte Liebe bei dessen Beerdigung wieder. (L’homme fidèle)
Zwei Liebespaare suchen in einem Hotel in der britischen Küstenstadt Scarborough Zuflucht und Anonymität. Beide Geschichten spielen 20 Jahre voneinander entfernt und haben viel mehr gemeinsam, als man ursprünglich denkt. (Scarborough)

Ein Mann spürt eine große Leere in seinem Leben und erkennt, dass er eine große Liebe verloren hat. Daher beschließt er, mit Hilfe einer Zeitmaschine zurückzukehren und zwar  genau an dem Tag, an dem sich beide das erste Mal getroffen hatten. (Ohne Ende)

Ein Filmemacher dokumentiert den realen Mord an seiner Großmutter, der vor 15 Jahren in Istanbul geschehen ist. Dabei vermengt er Gerichtsakten von damals und seine persönlichen Erinnerungen. (Familienmord)

Ein Polizist ist zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau noch immer von der Idee besessen, dass diese ihn betrogen hat. (A white, white day)

Das perfekte Leben einer Anwältin gerät aus den Fugen, als der Sohn aus erster Ehe ihres Lebenspartners mit ihnen zusammenzieht. (Queen of Hearts)

Das Leben des fiktionalen sowjetischen  Stand-Up-Comedians Boris Arkadiev ist

nicht leicht. Er wird nicht nur durch Zensur unterdrückt, seine eigenen Unsicherheiten vergiften auch noch all seine Beziehungen. (Der Komödiant)
Eine Frau kehrt einen Tag früher von einem Teambuilding nach Hause. Doch sie findet den Mut nicht, in ihre Wohnung zu gehen. Sie ahnt, dass ihr Mann sie mit einem anderen Mann betrügt. (Monster)

Ein Forstverwalter in der sibirischen Taiga, Familienmensch und werdender Vater, sucht und findet angesichts seiner Krebsdiagnose eine neue Identität-die einer Frau. (The man who surprised eneryone)

Acht Jugendliche aus einer abgelegenen Bergregion gehören einer paramilitärischen Einheit an. Sie müssen auf die  Milchkuh Shakira und eine US-amerikanische Geisel namens Doctora aufpassen. Als ihr Standort bekannt wird, muss sich die Einheit weiter in den Dschungel zurückziehen. (Monos)

Eine Hausfrau mittleren Alters befindet sich im Elend einer einer lieblosen Ehe. Ihr eintöniges Leben wird unterbrochen, als ein junger Maler ihren Wohnblock bemalt. Ihre Phantasie beginnt zu blühen, als sie mit ihren unstillbaren Wünschen konfrontiert wird. (Pause)

Um diese Themen ging es in den 12 Filmen der Sektion „Wettbewerb“. Für jeden Kinoliebhaber ist es ein Muss, so viele wie möglich davon zu schauen. Seit einigen Jahren gibt es die Tradition, ähnlich wie bei der Berlinale, alle Wettbewerbsfilme am letzten Tag zu zeigen. Für den Wettbewerb zugelassen, sind jedes Jahr 12 Filme, wobei es sich entweder um das Erstlingswerk oder um den zweiten Film eines Regisseurs handelt. „In diesem Jahr gab es großes Interesse für jene Filme, die sich  nicht mit dem aktuellen sozialen und politischen Kontext befassen, wobei die Regisseure sich entweder dafür entscheiden, ihn ganz zu vermeiden oder ihn subtil in Geschichten einzufügen“, meinte Mihai Chirilov, künstlerischer Leiter des Festivals.

Filme, die zum Nachdenken anregen

Der große Gewinner war in diesem Jahr der kolumbianische Film „Monos”, eine lose Adaptation von William Goldings Roman „Herr der Fliegen”. Dabei ist „Monos“ auch ein politischer Film, obwohl er sich mehr für die Vielfalt seiner Figuren interessiert als eine Gesellschaftskritik zu versuchen.
Der Publikumspreis ging in diesem Jahr überraschenderweise an den deutschen Film „Systemsprenger” in der Regie von Nora Fingscheidt. Auf der diesjährigen Berlinale wurde der Film mit dem Silbernen Bären - Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet.

Im Film spielt Helena Zengel die neunjährige Benni, die in eine dauerhafte Pflegefamilie gegeben werden soll, da ihre eigene Mutter sich nicht um sie kümmern kann. Benni ist laut, wild, unberechenbar, oft gewalttätig, immer wie eine tickende Zeitbombe. Sie treibt ihre Mitmenschen zur Verzweiflung, doch ihr Verhalten ist ein verzweifelter Schrei nach Liebe und Geborgenheit.
Das Mädchen wechselt seit vielen Jahren von einer Pflegefamilie in die nächste. Eine Jugendamtsmitarbeiterin und ein Anti-Gewalt-Trainer wollen endlich ein dauerhaftes Zuhause für das junge Mädchen finden, doch Benni legt es bei jeder Familie aufs Neue darauf an, rauszufliegen, weil sie unbedingt zu ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern zurück möchte. Anfangs verspricht die Mutter Benni, dass sie zu ihr ziehen wird. Doch später realisiert sie, dass sie sich eigentlich vor ihrer eigenen Tochter fürchtet und sich nicht traut, die Beziehung zu ihr aufzubauen. Am Ende schlägt ein weiterer Versuch der Pfleger, das Mädchen auf einen Auslandsaufenthalt nach Afrika zu schicken, fehl. Benni flüchtet aus dem Sicherheitsbereich auf das Dach des Flughafens. Ob es für sie noch eine Chance gibt, diese Frage lässt der Film offen. Und die Frage beschäftigt den Zuschauer lange nach Verlassen des Kinosaals.

Ein anderer Film im Wettbewerb, der für langen Gesprächsstoff sorgt, ist die dänisch-schwedische Produktion „Queen of Hearts“ (deutsch: Königin der Herzen) in der Regie von May el-Toukhy. Die Regisseurin erhielt in Klausenburg den Preis für die beste Regie. Die Handlung von „Königin der Herzen“ spielt fast ausschließlich in einem villenartigen Einfamilienhaus neben einem See. Hier lebt Anne, eine Anwältin für Familienrecht, mit ihrem Mann und ihren beiden Zwillingstöchtern. Ein Bilderbuchleben: die Töchter nehmen Reitunterricht, die Eltern feiern Gartenfeste und schwimmen im nahe gelegenen See. „Meine größte Angst ist, dass auf einmal alles verschwinden wird“, meint Anne. Und ihre größte Angst wird zur Wirklichkeit: wie ein Haufen Dominosteine fällt ihr Leben Teil für Teil zusammen.

Und das aus selbstgemachtem Leid. Plötzlich erscheint in ihrem Leben jemand, der die Dominosteine zum Schwanken bringt: es ist Gustav, der 16-jährige Sohn aus erster Ehe ihres Ehemannes. Der Jugendliche hat Probleme mit der Polizei und muss deshalb für eine Weile bei der Familie leben. Am Anfang ist Anne überhaupt nicht davon begeistert, doch nach kurzer Zeit beginnt sie eine Affäre mit ihrem Schwiegersohn, die in einer Tragödie endet, und das nur, weil die Rechtsanwältin sich in ein immer stärkeres Netz aus Lügen verwickelt, das zu platzen droht.

Die Monster in uns

Ebenfalls ein Wettbewerbsfilm, der zum Nachdenken anregt, ist „Monster“. Es handelt sich um das Regiedebüt  des Bukarester Regisseurs Marius Olteanu. In drei Teilen wird von einer Ehe erzählt, die zu zerbrechen droht.  Im ersten Teil kehrt Dana (Judith State) einen Tag früher von einem Teambuilding in den Bergen zurück. Doch statt nach Hause zu gehen, verbringt sie ihre Nacht in einem Taxi.
Sie fährt durch die Straßen und unterhält sich mit dem Taxifahrer (Alexandru Potocean) über ernste Sachen. Im zweiten Teil lernen wir Andrei (Cristian Popa), den Ehemann von Dana kennen. Am gleichen Abend hat er sich über ein Dating-Portal mit einem Mann (Șerban Pavlu) verabredet. Im dritten Teil treffen Dana und Andrei in ihrer gemeinsamen Wohnung aufeinander. Es folgt eine Tauffeier von Freunden und ein gemeinsamer Besuch bei einer Tante von Andrei. Am ergreifendsten ist die Szene, in der die beiden miteinander tanzen, vielleicht zum letzten Mal. Monster ist die Geschichte einer Liebe, aber der Film erzählt auch vom Alltag in Rumänien, von der Genderproblematik, von den gesellschaftlichen Erwartungen, in die nicht alle hineinpassen.  „Monster“ kommt im August in die rumänischen Kinos. Hoffentlich werden auch „Systemsprenger“ und „Queen of Hearts“ zu sehen sein. „Tiff“ geht Ende dieser Woche in Hermannstadt weiter. Und auch für die 19. Auflage im Jahr 2020 stehen die Termine fest: 29. Mai bis 7. Juni.