Vom krummhalsigen Vogel und anderen Verzierungen

Herta Wilk zum Gedächtnis

Diesen Ausführungen über die Lehrerin und Volkskundlerin Herta Wilk (1918-1992) liegen Erinnerungen von Verwandten und ehemaligen Schülern zugrunde. Auch wurden schriftliche Zeugnisse herangezogen: ein Lebenslauf der legendären Tartlauer Grundschullehrerin, verfasst von Hansgeorg von Killyen für die Südostdeutschen Vierteljahresblätter, sowie die ausführlichen Vorwörter zu den beiden Mappen mit Stickerei- und Webmustern, die sie selbst gesammelt und veröffentlicht hat.
 
Am Ende war es still geworden um die Lehrerin. Innere und äußere Not zwang die scheinbar Unermüdliche, im Jahr 1987 Tartlau den Rücken zu kehren und in Böblingen/Deutschland eine bessere Heimat zu suchen. Vier Jahre Kohlebergwerk im Donbass, von 1945 bis 1948, hatten für eine Altersdiabetes gesorgt. Der immer schlimmer werdende, entbehrungsreiche Alltag in den letzten Ceau{escu-Jahren tat ein Übriges. Schweren Herzens ist sie gegangen, hat aber in Deutschland nie richtig Fuß fassen können. Den Tartlauer Pfarrer Johann Orendi bat sie in einem Brief, ihre private Volkskunde-Sammlung zu übernehmen und in der Kirchenburg als Heimatmuseum öffentlich zugänglich zu machen.

Heute wird dieses Museum viel besucht. Fachkundig von Dr. Ligia Fulga vom Ethnographischen Museum Kronstadt eingerichtet, mit Objekten anderer Sammlerinnen und Sammler ergänzt, erzählt es gleichzeitig zwei Geschichten. Einerseits berichtet es anschaulich vom Alltag und von Festlichkeiten in der Burzenländer Großgemeinde in früherer Zeit, dann aber erzählt es auch von der Leidenschaft und Freude einer Tartlauerin, die in letzter Minute authentische Zeugnisse bäuerlicher Lebensweise gesammelt und liebevoll gehütet hat.

Zwei reich bestickte Braut- oder Paradebetten, sächsische Krüge und Teller, Werkzeuge zur Hanf- und Flachsverarbeitung, bemalte Bauernmöbel, all das und noch viel mehr kann man in den vier Räumen betrachten, die Pfarrer Orendi innerhalb der Burgmauern dafür zur Verfügung gestellt hat.

Als Lehrerin in Tartlau ist Herta Wilk im kollektiven Gedächnis bis heute präsent. Sie war eine Instanz, eine legendäre Grundschullehrerin, zunächst in Katzendorf und nach der Rückkehr aus Russland im heimischen Tartlau. Für sich selbst konnte sie durchsetzen, ausschließlich die Erstklässler zu unterrichten. Beim Lesen- und Schreibenlernen führte im Dorf jahrzehntelang kein Weg an Herta Wilk vorbei. Mit sieben Jahren kam man nicht in die erste Klasse, man kam zur Frau Wilk. Ein Schwarzweißfoto aus den späten sechziger Jahren zeigt sie mit einer ihrer Klassen vor dem Hintergrund der Kirchenburg. Alle Jungen und Mädchen tragen die Kindertracht. Zum Unterschied von ähnlichen, gestellten Fotos der Zeit, lachen viele von ihnen, geben sich locker, haben Spaß am Augenblick.

Das sagt schon einiges über diese Lehrerin: es ging weniger um „Zucht und Ordnung” als um das interaktive gemeinsame Lernen und Kennenlernen der Welt. Sie war autoritär und erzeugte bei den Kleinen ein Gemisch aus Respekt und Furcht. Aber auch Lebensfreude: in den Anfangsjahren musste sie, wie viele andere auch, in einem Raum direkt neben ihrem Klassenzimmer wohnen, da der elterliche Hof von „Kolonisten” besetzt war, die erst 1961 das Feld räumten. Sie war eine große Katzenfreundin. Ab und zu kratzte ihr vierbeiniger Liebling an der Verbindungstür. Sofort öffnete ein Schüler. Die Katze durfte ins Klassenzimmer, sprang auch aufs Katheder und ließ sich selbst von einer Inspektion nicht davon abhalten. Die Verfasserin dieser Zeilen sieht noch den Holzsäger aus Karton, der am Kachelofen im Klassenzimmer stand und seine Säge bewegte, wenn geheizt wurde. Physik, anschaulich gemacht für die Kleinsten! Aber sie hört im Geist auch Mutter und Großmutter stöhnen: schon wieder eine Aufgabe für die Eltern, ein Trachtenstück sticken, Unterrichtsmaterial bereitstellen, Hefte, Bastelzeug und Instrumente kaufen! Diese Lehrerin hatte ständig Neues im Kopf. Ihr Musikunterricht war so erfolgreich, dass Kolleginnen von fast überall zur Hospitation kamen. Notenlesen wurde nach der witzigen Methode geübt, die Heribert und Johannes Grüger mit ihrer Liederfibel erfunden haben. Bei Schulfeiern präsentierten sich die Jüngsten mit Blockflöten und später mit Melodicas, sie tanzten in selbstgenähten Trachten zur Musik, die Herta Wilk auf dem Akkordeon spielte. Und so sah ein Klassenausflug am Ende eines der ersten Schuljahre bei Frau Wilk aus: auf die Plattform eines Pferdewagens stellte man Bänke, die Kleinen kletterten mit ihrer Lehrerin hinauf, nahmen Platz und los gings, nach Kronstadt. Dort besuchte man eine Konditorei, kehrte hü-hott wieder nach Tartlau zurück, durchgerüttelt, aber aufgekratzt und mit einer Erinnerung fürs Leben beschenkt!

Manchen ist sie als rigoros und nicht eben zimperlich im Umgang mit ihren Zöglingen in Erinnerung geblieben. Brühwarm bekamen Eltern erzählt, was die Kleinen falsch gemacht oder dumm gequatscht hatten. Auch Kinderseelen können empfindlich sein.

Als Sammlerin und Bewahrerin von Volkskunst hatte Herta Wilk sich Emil Sigerus (1854-1947) zum Vorbild genommen. In den Einführungstexten zu ihren Stick- und Webmustermappen wird er auch ausführlich zitiert. Ihrem Weitblick und ihrer Überzeugungskraft ist es zu verdanken, dass  so überragende Zeugnisse dörflicher Volkskunst wie das „Paradebett” von 1815 mit seinen kunstvollen Wollstickereien nicht verloren gingen. Mit Leidenschaft sammelte sie in ihrer nächsten Umgebung zahlreiche Textilien. Sie analysierte und zeichnete die Stick- und Webmuster akribisch auf, so dass daraus zwei Mappen im Kriterion-Verlag gedruckt werden konnten. Die „Wilk-Mappe“ mit Leinenstickereien erlebte mehrere Auflagen in tausenden von Exemplaren. Damals, in den Siebzigern und frühen Achtzigern des zwanzigsten Jahrhunderts, stickte manche Frau noch. Auch in Schulen, vor allem auf dem Lande, wurde gestickt. Dazu lieferte die Wilk-Mappe einen unerschöpflichen Fundus an Mustervorlagen.

Auf den ersten Blick sind es geometrische Figuren, die da Polster, Handtücher und Tischdecken zieren. In ihrem Vorwort erläutert Herta Wilk aber tiefer liegende Zusammenhänge. Betrachtet man sie genau, enthalten die Muster stilisierte Ornamente aus der Pflanzen- und Tierwelt und diese können jenseits des Dekorativen Symbole sein für Kraft (der Falke und der Löwe), für aufopfernde Liebe (der Pelikan), für Treue (der Hund). Eine Märchenwelt tut sich auf, verwunschen und immer weiter vom heutigen Alltag entfernt. Wer erkennt schon auf den ersten Blick den „krummhalsigen Vogel” und was hatte er wohl für eine Bedeutung?

Und was tat die unermüdliche Lehrerin in den Ferien? Sie erlernte das Töpferhandwerk. Dazu fuhr sie ins entfernte ungarischsprachige Töpferdorf Korund und versuchte, eine Renaissance der sächsischen Töpferkunst herbeizuführen. Eigenhändig bemalte sie Krüge, Teller und Kannen nach alten Mustern. Nicht zu zart, nicht zu kleingliedrig, nicht zu bunt, war ihre Devise. Einer der Korunder Töpfer übernahm ihren Stil und hatte jahrelang damit auf dem Hermannstädter Töpfermarkt Erfolg. Eine von Herta Wilk eigenhändig bemalte Keramik war und ist bis heute ein ganz besonderes Geschenk, das auch dreißig Jahre nach ihrem Tod sichtbar von ihr erzählt.

Was bleibt? Unter anderem ein Leitspruch von Gottfried Keller, den Herta Wilk sich gewählt hat, als eine Weisheit und Rückversicherung in bewegten Zeiten, von denen auch sie durchgerüttelt worden ist:

Lasset uns am Alten,
so gut es ist, halten,
doch auf altem Grund
Neues wirken jede Stund.