„Wir haben uns geschworen, zu helfen“

Kronstädterin Ingrid Arvay vom Kolping-Sozialverband organisiert Hilfstransporte nach CzernowitzV

Ingrid Arvay lädt Fleischkonserven in Czernovitz herunter.

Der Kolping-Verband hat einen neuen, großen Mikrobus für die Transporte nach Czernowitz gekauft.

Das Büro der Referentin wurde in den ersten Kriegswochen als Lager für die zahlreichen Sachspenden verwendet.

Eine Ordensschwester schaut sich am Hauptplatz in Czernowitz die Bilder der Helden aus der Stadt an, die seit 2016 an der Front gefallen sind. Fotos: privat

Vor einigen Wochen war Ingrid Arvay in Czernowitz, einer ukrainischen Stadt, die eine Stunde von der rumänischen Grenze entfernt ist. Nichts Außergewöhnliches, ginge es sich nicht um ein Kriegsgebiet. Die Kronstädterin ist Projektreferentin bei Kolping, einem internationalen christlichen Sozialverband, der Menschen hilft, ihre Armut aus eigener Kraft zu überwinden. Arvay, die vielen auch als Kindergärtnerin oder Grundschullehrerin bekannt ist, war in den letzten Monaten bereits zwei Mal im Nachbarland, um Hilfsgüter zu liefern. Es werden Grundnahrungsmittel, Fertig- und Halbfertignahrung gespendet, Konserven, Arbeitswerkzeug für die Küche, Schürzen, aber auch Medikamente, Kleidungsstücke, Schuhwerk, Möbel, Hygieneartikel und Einweghandschuhe. Arvay koordiniert gemeinsam mit dem Kollegenteam aus Temeswar, Neumarkt und Oituz jeden Hilfstransport, in Absprache mit Kolping International, der die Hauptspenden schickt, und Kolping Ukraine. "Es ist eine Teamarbeit, die wir leisten", betont sie.

Arvay erzählt sehr energisch über die erste SMS, die aus der Ukraine kam. „Am 25. Februar 2022, einen Tag nach Kriegsausbruch fragte uns Galja I., Referentin bei Kolping Ukraine und Lehrerin in Czernowitz, ob wir eventuell helfen könnten, falls Familien flüchten wollen. Selbstverständlich haben wir uns alle sofort mobilisiert. Wir haben eine Online-Plattform unseres Vereins gegründet, uns sehr gut miteinander und mit Kollegen aus Europa (Ukraine, Deutschland, Polen, Ungarn, Slowakei und Serbien), sowie mit Kolping International vernetzt und schnell die Inventur aller Schlafmöglichkeiten im Land gemacht.“ Knapp 100 Personen fanden in den erste Monaten nach Kriegsausbruch mit Hilfe der Kolpingfamilien aus Rumänien Unterkunft und Schutz, darunter einige auch in Kronstadt. Vielleicht scheint die Zahl nicht groß. Doch jedes Schicksal zählt.

Im Kolping-Hotel (Sandor-Petöfi-Straße 27) in Kronstadt wurden ukrainische Geflüchtete untergebracht, vor allem Mütter mit Kindern. „In den ersten Monaten haben wir unsere Handys nie ausgeschaltet, auch in der Nacht nicht. Hilfe war ständig gefragt”, erinnert sich die Referentin des Nationalverbands.

„Wir tun unsere Menschenpflicht“

Im März 2022 wurde das Flüchtlingszentrum CATTIA gegründet, das Geflüchtete beherbergte und ihnen bei der Weiterreise unterstützte. Somit konzentrierte sich Kolping auf die Bekannten in Czernowitz, die Bedarfslisten schickten. Man half aus eigenen Ressourcen, „später kamen auch Hilfstransporte aus dem Ausland hinzu und viele Spenden“. 2.500 von den zwei Millionen ans Internationale Kolpingwerk gespendeten Euro kamen sogar aus Burundi und Ruanda, einige der ärmsten Länder der Welt.

Die gekauften und erhaltenen Nahrungsmittel und Güter wurden zum Kolpinghaus in Oituz (Kreis Bac²u) gesendet, wo alles sortiert und für die Hilfstranporte vorbereitet wird. Es fanden 43. Transporte statt. Ein Teil davon bleibt dort, einen weiteren Teil verteilen die Ukrainer an Notbedürftige in benachbarte Ortschaften und Städte. Arvays Kollege Cornel Bulai fährt den Kolping-Mikrobus, Freiwillige begleiten ihn. „Selbstverständlich hat er Angst. Man fährt immer mit Angst. Überall stehen Soldaten mit Gewehren. Es ist eine unberechenbare Situation. Man kann nie wissen, was passieren kann. Es ist ein Kriegsgebiet”, erklärt die Projektreferentin. Sie selbst hat auch Bedenken, wenn sie eine neue Reise antritt. Nichtsdestotrotz hat sie sich geschworen zu helfen, solange sie es kann. „Wir sehen Leute, die Hilfe brauchen und erinnern uns an uns in den 1990er Jahren. Wie viel Hilfe haben wir bekommen? Unendlich. Wir können die Leute nicht im Stich lassen. Wir tun unsere Menschenpflicht.”

Persönliche Beziehung

Auch wenn Ingrid Arvay nur zwei von 43 Mal in Czernowitz war, schlägt ihr Herz für die Ukrainer, die sie dort kennt. „Wir wissen genau, wem wir helfen, wir haben eine persönliche Beziehung zu den Menschen dort”. Manche kannte sie noch vor dem Krieg, es waren Arbeitskollegen vom Verein, der 2015 gegründet wurde. Die meisten Leute hat sie aber erst jetzt kennengelernt. Sie spricht voll Mitgefühl für die Köchinnen in der Bedürftigenkantine, die Hunderte bedient. „Sie kochen köstlich und entwerfen ständig neue Menüs. Sie tun das unverdrossen seit einem Jahr”. Iryna K. hat ihr Haus im Krieg verloren, „hat nichts mehr, wohin sie zurückkehren soll. Sie kocht mit so viel Liebe für all die 500 Leute, so fühlt sie sich nützlich”. Noch im Winter des Vorjahres versorgte die Kantine 50 Bedürftige. Am 25. Februar 2022 verdoppelte sich deren Zahl und stieg seither ständig an. Heute sind es 500 Portionen am Tag, die serviert werden.

„Es ist schwer, optimistisch zu bleiben“

„Die Atmosphäre in Czernowitz ist trüb. Es ist schwer, optimistisch zu bleiben. Die Männer warten auf die Einberufung”, erzählt Ingrid Arvay. Sie spricht von vielen Fällen: von dem Kollegen, der seinen Schwager an der Front verloren hat, von dessen allerbesten Freund, Vater von vier Kindern, der freiwillig in Bachmut kämpft. „Er weiß, dass er seine Familie vermutlich nie mehr treffen wird. Er erhält die Verbindung zu seiner Frau, den Kindern, soweit wie möglich.” Die persönlichen Treffen mit den Leuten beeindrucken Arvay sehr. „Ich habe einen Mann getroffen, der meinte, er ist bereit für sein Land zu kämpfen, er macht Sport und wartet auf die Einberufung. Ein anderer Mann ist total gebrochen, will nur noch weg aus dem Land, zu seiner geflüchteten Frau und den Kindern. Er sagt ständig: Mich interessiert dieses Land nicht mehr. Ich will nur noch leben”.

Bei ihrem letzten Besuch in der ukrainischen Stadt war sie schwer beeindruckt vom Rattern der Generatoren. „Es gab oft Stromunterbrechungen. Weil die Generatoren nur für einige Stunden zur Verfügung standen, überlegten die Leute gut, welche Apparate sie im Haushalt anwenden: Kaffee- oder Waschmaschine, den Staubsauger, oder doch lieber den Haartrockner.”

In Czernowitz ist jeder dritte Einwohner ein Flüchtling. „Im Moment ist dort der sicherste Ort für diese Leute”. Sie wohnen bei Verwandten, Freunden, Bekannten oder in zum Schlafplatz eingerichteten Klassenräumen von Schulen. Dank einer großen Spende, die Kolping vermittelte, konnten die Räumlichkeiten mit neuen Betten, Matratzen und Handtüchern versorgt werden. Arvay erinnert sich an die patriotischen Lieder, die die Geflüchteten in dieser Schule sangen, während sie Tarnnetze für die Panzer und Erste-Hilfe-Beutel nähten.

Kolping Verband

Der internationale christliche Sozialverband versteht sich als eine lebendige Weltfamilie, in der sich alle solidarisch umeinander und um ihre Nächsten kümmern. In über 9.000 Kolpingsfamilien in 60 Ländern in Europa, Afrika, Asien oder Amerika helfen sich Menschen gegenseitig – hauptsächlich ehrenamtlich - und bewegen etwas für Andere.

Von den 400.000 Mitgliedern weltweit sind rund 0,5 Prozent in Rumänien aktiv. 77 Kolpingsfamilien in Siebenbürgen, dem Banat und der Moldau haben sich seit der Gründung des rumänischen Vereins dem Netzwerk angeschlossen.

Kolpingsfamilien sind in römisch oder griechisch-katholischen Pfarreien, die sich verpflichtet haben, das Vorhaben des Priesters und Sozialreformers Adolph Kolping (1813-1865) weiterzuführen und sich für Andere einzusetzen. Als Fortsetzung der katholischen Gesellenvereine, verstehen sie sich als familienhafte Gemeinschaften, in denen der Einzelne Unterstützung erfährt und in seinen Talenten gefördert wird. Vor rund 200 Jahren gründete der „Gesellenvater“ in ganz Europa ein Netzwerk von Vereinen, die Tausenden Menschen am Rande der Gesellschaft Orientierung und Unterstützung boten. Hilfe kann jeder Mensch leisten oder bekommen, unabhängig von seiner Glaubensüberzeugung oder Nationalität.

In Kronstadt gibt es eine einzige Kolpingsfamilie, bei der Pfarrei der katholischen Kirche auf der Zajzoner-Straße, an der Ecke zur Toamnei-Straße, die u.a. viele Tätigkeiten für Kinder und Jugendliche organisiert. Jahrelang war der Hauptsitz des rumänischen Nationalverbands im Kolping-Hotel, das einen beträchtlichen Teil des Vorhaben des Verbands in Rumänien trägt. 2016 wurde der Sitz der Kolpingfamilien nach Temeswar verlegt.

Berufsausbildung gesichert

Einer der Arbeitsschwerpunkte von Kolping in Kronstadt liegt auf Ausbildung und Sozialprogrammen. Seit der Eröffnung des Hotels im Jahr 2006 läuft ein Bildungszentrum für Berufe aus dem Tourismusbereich. Über 500 Köche und Kellner - hauptsächlich Frauen, sozial Benachteiligte, Angehörige der Minderheiten, Jugendliche und Arbeitslose - wurden hier in sechsmonatigen Umschulungskursen ausgebildet. Seit acht Jahren dient das Hotel als Lernort für Schüler der Maria-Baiulescu-Berufsschule. Zur Zeit erhalten jeweils vier pro Jahrgang eine dreijährige Ausbildung im Gastgewerbe im dualen System.

 

Diesen Monat fährt Cornel Bulai erneut nach Czernowitz. Beim 44. Transport von Kolping Rumänien schickt Ingrid Arvay, wie jedes Mal, rumänische Rum-Schokolade für die Köchinnen der Bedürftigenkantine mit.