„Abwägend, ausgleichend und taktvoll“

Die Historikerin Maja Depner-Philippi: Vorstellungsbild und Wirklichkeit

Maja Philippi

Vor hundert Jahren, am 12. Februar 1914, wurde die Historikerin Maja Depner, verheiratete Philippi, in Kronstadt/Braşov geboren. In der Zeit ihres Berufslebens unterrichtete sie Geschichte an Kronstädter Schulen, sie widmete sich Archivstudien und der landeskundlichen Erwachsenenbildung. Die stets auf Selbstdisziplin bedachte Lehrerin, die um aufrechte Haltung bemühte Respektsperson prägte das Porträt, für mich und wohl für die meisten Leute ihres Umgangs. Sie starb am 10. März 1993 in Hermannstadt/Sibiu und wurde am 13. März 1993 in Kronstadt beigesetzt. Ihr geistiges Erbe setzt sich aus monografischen Studien und aus Abhandlungen zur Vergangenheit ihres Geburtsorts und Siebenbürgens zusammen.

Briefe privater Natur, Ansätze zu einer biografischen Selbstdarstellung u. a. wurden mir von ihren Söhnen Friedrich Philippi und Kurt Philippi im Lauf der letzten Monate und Jahre zur Verfügung gestellt. Bei der Lektüre verdeutlichte sich mir, dass Dr. Maja Philippi nicht immer die ausgereifte Persönlichkeit gewesen ist, als die wir, ihre einstigen Schüler, ihre Kollegen und Freunde sie erlebten. Sie war vielmehr – naturgegeben und schicksalhaft – ein Mensch im Werden und im Wandel. Das heißt: Es fehlte nicht an Selbstzweifel und innerem Widerspruch, auch nicht an der Nötigung, sich zu bescheiden, wo ihre Erwartungen auf größere Ansprüche eingestellt, ihre Hoffnungen auf höhere oder eben andere Ziele gerichtet waren, als die ihr zugewiesenen. Und ins berufliche und gesellschaftliche Umfeld wuchs sie nur allmählich hinein, nicht ohne manche Enttäuschung, manche Nervenbelastung verwinden zu müssen. Was ihr aber immer wieder half, mit Misshelligkeiten fertig zu werden, war ihr Bedürfnis, in Konfliktsituationen „reinen Tisch“ zu machen, sich auf die Zukunft auszurichten, war der Versuch, selbst in verworrenen Lebenslagen nicht zu resignieren.

Die mir zugänglich gewordenen dokumentarischen Quellen sind sichtlich in einem gewissen zeitlichen Horizont befangen, sodass spätere Äußerungen mitunter die vorangegangenen relativieren. Zudem enthalten die überbliebenen Schriftstücke recht subjektive Aussagen einer um Klärung der eigenen Stellung bemühten Frau.
In der Zeit befangen sein, also auch gebunden an geschichtliche Momente, sowie Subjektivität kommen in noch höherem Maß ins Spiel, wenn Gestalten des realen Lebens zu Figuren literarischer Arbeiten werden. Und hiermit schlagen wir in unserem Anliegen, Maja Philippis zu gedenken, ein weiteres Motiv an. Sie ist nämlich, samt anderen Angehörigen der Familien Depner und Philippi, Teil des Personenensembles im Schauspiel „Der Fall Dr. Weber oder Der entführte Wohltäter“ von Erwin Wittstock.

Das als Typoskript vorliegende, leider nicht vollends gerundete Theaterstück basiert auf einer Namensgleichheit und Namensverwechslung. Wilhelm Depner (im Drama umgeändert in Wilhelm Weber) hießen dazumal: der Arzt und Spitalseigner Dr. Depner (Weber), Maja Depners Vater, weiterhin sein Sohn Wilhelm Depner junior (Weber jun.) und verhängnisvoller Weise auch der „ehemalige Führer der nationalsozialistischen deutschen Jugendverbände im Burzenland und Soldat der Waffen-SS“. Zeit der Handlung: „Frühjahr 1945, doch noch bei Schnee und winterlicher Kälte“. Die sowjetische Militärbehörde und die rumänische Polizei suchten den einstigen Volksgruppenfunktionär zu fassen, verhafteten indes den Arzt, verschleppten ihn nach Hermannstadt, und es gelang nur mit Mühe, das Missverständnis aufzuklären und ihn wieder zu befreien. Dieser Handlungskern ist authentisch, das heißt, der dokumentarisch verbürgten Wirklichkeit entnommen.

Maja Philippi hat einst ein maschinegeschriebenes Gedenkbuch „Dr. Wilhelm Depner“ zusammengestellt, und darin wird, in einem handschriftlichen Zusatz, die zuvor skizzierte Episode folgendermaßen umrissen: „Die Russen verlangten von ihm [dem entführten Arzt] die Bekanntgabe des Aufenthaltsortes seines Sohnes, Wilhelm Depner, der damals als Ingenieur bei einer Wegbaugesellschaft in Brad im Erzgebirge arbeitete. Es handelte sich um eine Verwechslung mit dem gewesenen Jugendführer Willi Depner, der sich damals noch im Lande versteckt hielt und den die Russen suchten. Dr. Depner gab die Anschrift seines Sohnes nicht preis, da er fürchten musste, dass dieser, einmal in die Hand der Russen gefallen, den Irrtum nicht mehr werde aufklären können. Er [der Arzt] wurde deshalb so lange von den Russen zurückgehalten, bis die Verwechslung sich auf andere Weise geklärt hat.“

Da wir nun aber nicht die Zentralfigur des Stücks, den Arzt, in den Mittelpunkt stellen wollen, sondern die Arzttochter Maja, greifen wir jene Dramenpartien auf, in denen sie sprechend und handelnd auftritt.
Sie wird im Schauspiel Astrid Römer genannt und als Mittelschullehrerin, die sie tatsächlich war, bezeichnet. Ihr Gatte war abwesend, wie wir aus Kurt Philippis Biografie wissen (also irgendwo in Österreich oder Deutschland, vielleicht aber noch in Rumänien oder in sowjetrussischer Gefangenschaft), und das trifft auch auf die halbfiktive Person Georg Römer zu. Frau Astrid ist in Sorge um das Schicksal ihres Mannes, eines vielerlei Gefahren ausgesetzten Flüchtlings. Sie ist deshalb bereit, anderen in seiner Lage zu helfen, Notleidenden, sich im Verborgenen aufhaltenden Personen. Selbst einem deutschen Soldaten steht sie mit einer beträchtlichen Geldsumme bei, um ihm zur Flucht aus Siebenbürgen zu verhelfen (ohne zu wissen, wer er in Wirklichkeit ist, ohne zu ahnen, wer sich hinter dem Falschnamen Günter Sommerauer verbirgt…).

Hier sind wir bereits mitten in der literarischen Erfindung. Der Arzt missbilligt die zu unvorsichtigem Handeln geneigteTochter – deutschen Soldaten und Nachzüglern aller Art Vorschub leisten, bedeutet, der Kundmachung zuwider handeln, die von Dr. Weber mitunterzeichnet wurde, heißt, den Aufruf ignorieren, der alle Volksgenossen an ihre Loyalität dem Staat gegenüber erinnert und nachdrücklich davor warnt, landfremde Flüchtlinge zu unterstützen, ja mit ihnen auch nur zu sprechen.

Frau Astrid bringt zum Ausdruck, wie sie hierüber denkt.

„Astrid: Und Georg? Seit fast einem Jahr habe ich keine Nachricht von ihm. Und in zwanzig Ländern und fünf Erdteilen gibt es deutsche Soldaten, Gefangene oder Nachzügler, Tausende und Abertausende, und in anderen Ländern gibt es englische, französische, italienische, russische und weiß der Himmel was für Nachzügler und Gefangene. Soll ich an die Härte oder die Anständigkeit der Menschen glauben? Soll ich mir vorstellen, dass man den Vater meiner Kinder abweist und grausamen Menschen ausliefert, wenn er hungrig ist? Wenn ich ihm (auf Sommerauer deutend) Brot gebe, gebe ich es Georg. Verstehst du das nicht?

Weber: Mit solchen Auffassungen kannst du aber nicht in der Wohnung deines Vaters wohnen.

Astrid: Es sind die natürlichen Anschauungen, die jeder unverbildete Mensch hat. Und wenn du meinst, dass es ein Akt politischer Klugheit und Notwendigkeit ist, die Kundmachung zu veröffentlichen, so soll sie auf den Straßen hängen… Aber das natürliche Empfinden lehnt sich dagegen auf, und man möchte den Menschen in allen Sprachen und für alle Sprachen zurufen: Helft, was ihr könnt. Helft mehr, als ihr bisher geholfen!
Weber (mit einer ablehnenden Handbewegung): Exaltiertes Gerede. Und sehr gefährlich.“
Ein Wesenszug der Frau Astrid zeigt sich hier: ihre Einsatzbereitschaft. Sie ist in dem an Zwangslagen, politischen Intrigen, an unglücklichen Zufallsfügungen, Vorspiegelungen und Tarnversuchen reichen Geschehen des Schauspiels bereit, die ihrem Vater drohende Gefahr von ihm abzuwenden, indem sie die Aufmerksamkeit der auf Enthüllung verdeckter Zusammenhänge eingestellten Behörden auf sich lenkt. Von ihrer Schwester Hermine (gemeint ist Thea Depner) wird Astrid durch energischen Zugriff davon abgehalten, sich zu exponieren (das heißt, einzugestehen, dass sie einem verfolgten deutschen Soldaten mit Nahrungsmitteln und Geld ausgeholfen hat). Ein Geständnis hätte ohnehin nicht den gewünschten Effekt, den bereits verhafteten Vater zu befreien.

In etwas geraffter Anordnung hier ein Zitat aus einem Dialog zwischen Astrid und Hermine.

„Astrid: Ich versuche, Gründe und Gegengründe nebeneinander zu stellen, ob der Vater oder ich im Kerker sitzen soll. Er ist alt. Er hält es einfach nicht aus. Er verliert sein Vermögen als in Haft befindlicher Kollaborationist, und wir werden womöglich allesamt aus dieser Wohnung hinausgesetzt. Ich habe kein Vermögen. Ich habe keine selbstständige Wohnung, ich habe nur die Sorge um Georg und die Kinder.

(Gedämpft, sehr traurig:) Die Entscheidung ergibt sich von selbst.  […]  Ich werde den Weg gehen, den viele gegangen sind und gehen, die unvorsichtig gewesen sind. Das Fürchterliche dabei ist, dass es ein normales, unverbildetes Empfinden überhaupt nicht mehr geben darf.  […]  Ich habe trotz der Warnung des Vaters getan, was ich für gut hielt. Ich nehme die Folgen auf mich.“

Bevor wir uns von der literarisch realen wieder der biografisch authentischen Maja Philippi zuwenden, sei noch einiges über das Stück „Der Fall Dr. Weber oder Der entführte Wohltäter“ notiert. Zunächst zum Titel: Der Autor hatte auch noch andere Benennungen erwogen. Den Text betrachtete er noch nicht als endgültig festgelegt. Aus der Korrespondenz Erwin Wittstocks mit dem Bukarester ESPLA-Verlag und der Zentralredaktion des „Neuen Wegs“ wird ersichtlich: Es bestand wenig Aussicht auf eine Veröffentlichung. Und so verzichtete er auf eine Fertigstellung des an manchen Stellen sich erst im Stadium des Entwurfs befindlichen Dramas. Niedergeschrieben wurde das Schauspiel 1953-1954. Es umfasst 78 Seiten in Maschinenschrift.
Kennzeichnend für Maja Philippi war nicht nur die soeben illustrierte Einsatzbereitschaft, sondern auch ihr Bedürfnis, Wahrnehmungen und Einsichten jeweils zu prüfen, Irriges zu verwerfen und die einmal gewonnenen Überzeugungen dann auch zu vertreten. Ohne Starrsinn, doch mit Nachdruck.

Vielleicht ist es angezeigt, hier Kurt Philippi zu zitieren, der sich mit einigen porträtistischen Anmerkungen über die verstorbene Gattin an seine Kinder wandte. Was Maja selbst an sich vermisste – manche ihrer frühen Briefe zeigen es –, das billigte er schon der jungen Depner-Tochter zu, nämlich „Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit“.

Er schreibt weiterhin: Maja „hatte einen starken Intellekt, mit dem sie alle Probleme des Lebens so erfolgreich angegangen ist, der aber – trotz zeitweiliger derartiger Befürchtungen (in ihrem ersten Studiensemester in Kiel) – ihr Gefühlsleben nie unterdrücken konnte. Maja war geistig beweglich, hatte eine gute Auffassungsgabe und ein sehr gutes Gedächtnis. Sie erlebte die Probleme des Lebens mit regem, aufgeschlossenem Geist, nahm daran interessiert Anteil, griff sie verarbeitend auf, griff mit ihrer Meinung in Diskussionen ein, wo immer sie sich ergaben (im Beruf, im öffentlichen Leben wie Presse, völkischen oder kirchlichen Körperschaften usw.), immer aber abwägend, ausgleichend und taktvoll, nie verletzend, sondern argumentierend und schöpferisch, wobei sie in Äußerung und Formulierung fast immer den Nagel auf den Kopf traf und den Punkt aufs ‘i’ setzen konnte.“