ADZ-Reihe: Inspirierende Orte

Das „Stundenmädchen“

Martin Rill

Ein Ort, der einen sächsischen Jungen zu einer kolossalen Verrücktheit inspirierte, von der heute kaum noch jemand etwas weiß – oder doch? - ist der Glockenturm der evangelischen Kirche von Meschen/Mo{na... 

Dort gibt es eine stark verwitterte Holzfigur, Teil des Mechanismus der Turmuhr, die früher mittels eines Glöckchens die Viertelstunde schlug. Nun haben Turmfiguren oft seltsame Kosenamen: in Keisd/Saschiz heißt der Glockenschläger „Bogdan-Misch“, in Mediasch/Media{ ziert der „Turepitz“, der Peter am Turm, denselben. Seltsamerweise wird der hölzerne Mann in Meschen, ganz eindeutig ein Mann mit Vollbart, „Stundenmädchen“ genannt! 

Jahrelang rätselte der Erzähler dieser Geschichte, Martin Rill, über den Ursprung dieses seltsamen Namens. Auch die Kuratorin und Burghüterin Marianne Rempler, die die Statue auch so nannte, konnte ihm das Mysterium nicht aufklären. 

Erst Hugo Schneider, 1933 in Meschen geboren, erinnerte sich: Es war Anfang der 1920er Jahre, Bürgerball im Gemeindesaal. Die jungen Männer hatten wohl schon kräftig dem Wein zugesprochen, als der Steppes (Stephan) Binder, geboren 1901, in seinem Übermut laut eine Wette verkündete: Er wolle um Mitternacht den Turm besteigen, den Glockenschläger herunterholen, in den Saal bringen und ein Tänzchen mit ihm wagen.  Die Wette wurde angenommen  - und der Steppes hielt, was er versprochen hatte: Unter großem Gelächter aller wirbelte er nach Mitternacht den hölzernen Glockenschläger übers Parkett wie ein Mädchen!

Er muss es sogar geschafft haben, die Statue wie versprochen zurückzubringen, denn sie schlug dort noch einige Jahre die Viertelstunde, bis zum Ableben des letzten Glöckners. Was der Steppes bei der Wette gewonnen hat, ist leider nicht überliefert. Dafür der spöttische Name für die als Tanzpartnerin „missbrauchte“ Turmfigur: das Stundenmädchen.