ADZ-Reihe: Inspirierende Orte

Die Gesellenherberge in Hermannstadt

Fotos: George Dumitriu

Schlendert man am Huetplatz an der evangelischen Stadtpfarrkirche vorbei in Richtung Sagturm, springt einem rechterhand eine Kuriosität förmlich ins Auge: ein Baumstamm mit allerlei geschmiedeten Symbolen, Nägel, Topfdeckel, Spiralen, eine Sichel und kunstvolle Ornamente – ein Museumspfahl? Mitnichten!  Der Stamm, bewacht von einem charmanten Drachen an der Spitze, verweist auf die Gesellenherberge - und einen jahrtausende alten Brauch: das Reisen zum Zwecke der Bildung. 

Schon im Alten Ägypten und später im Römischen Reich begaben sich Handwerksgesellen auf Reisen, um von Meistern aller Herren Länder zu lernen. So richtig Fahrt nahm die Tradition aber erst im Mittelalter in Europa auf. Ab dem 12. Jh. sind dort die ersten Zünfte entstanden. Im 15. Jh. wird die Wanderschaft dann zur Pflicht eines jeden Gesellen. Gereist wurde in der typischen Kluft: weite Hosen, in deren Tasche sich eine Münze befinden musste, die man wieder nach Hause bringt, und ein hölzerner Zollstock. Schwarze Stiefel, schwarzer Hut, weißes Hemd und eine Weste in der Farbe der Zunft. Die Reise dauerte zwischen drei und zwölf Jahren und man durfte in dieser Zeit seinem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer kommen und sich nirgends länger als drei Monate aufhalten, um nur ja so viel wie möglich an Neuem aufzuschnappen.

Und weil der junge Wandersmann unter 30,  ledig und schuldenfrei sein musste, ist es wohl kein Wunder, dass so mancher in irgendeinem Land fern der Heimat an einem schmucken Rockzipfel hängen blieb und eine Familie gründete. Europas Vielfalt lässt grüßen! In Siebenbürgen waren Hermannstadt, Bistritz/Bistria und Kronstadt/Braşov Hochburgen der Zünfte.

Alles graue Vergangenheit? Man höre und staune: Auch heute gibt es weltweit noch an die 800 Wandergesellen. Sieben deutschsprachige Gesellenvereinigungen, man nennt sie Schächte, sind heute noch aktiv. 

Was das alles mit der Gesellenherberge am Sagturm und dem Pfahl davor zu tun hat? Seit 2007 veranstalten dort der Verein Gesellenherberge Hermannstadt und die Deutsche Gesellschaft e.V. in den Sommermonaten Schau-Werkstätten, Ausstellungen, Workshops, Vortragsreihen und vieles mehr. Das großangelegte europäische Projekt unterstützt den Wissens- und Kulturtransfer durch Wandergesellen und zieht jährlich reisende Gesellen aus ganz Europa an.

In Rumänien, wo die Bildungsschere zwischen ungelernten Arbeitern und Akademikern weit auseinanderklafft und man nur schwer einen Handwerker findet, geschweige denn einen geschickten, wünscht man sich manchmal schmerzlich  eine Rückkehr der guten alten (Zunft-)Zeiten.