ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher: Cosmins Traum

„Cosmin. Von einem, der auszog, das Leben zu lernen“, Karin Gündisch, geboren 1948 in Heltau/Cisnadie, ISBN 9-783946-954897, im März 2021 im Schiller Verlag erschienen

Mit zwölf Jahren mit den kleinen ABC-Schützen die Schulbank drücken und Lesen lernen? Verständlich, dass Cosmin darauf gar keine Lust hat. Mit zwölf ist man in seinen Kreisen doch längst ein Mann! Ein Mann, der den Vater als Familienoberhaupt ersetzt, wenn dieser mal wieder verschwunden ist... Ein Mann, der bald selbst ans Geldverdienen denken muss, statt den Eltern auf der Tasche zu liegen. Cosmin fühlt sich schon recht erwachsen, ihm gefällt dieser Gedanke. Trotzdem geht manchmal noch der Lausbub mit ihm durch: wenn er den Esel seines Großvaters bis ins Klassenzimmer reitet, das Obstmesserchen der Lehrerin stibitzt oder das Pferd von Carei, das er eigentlich beim Weiden hüten soll, den anderen Buben heimlich zum Reiten „vermietet” - gegen einen alten Fahrradschlauch, ein Stück Hosengummi oder andere Kostbarkeiten. Oder dafür, dass er mit dem schlauchlosen Fahrrad von Ionu] ein paar Runden drehen darf, auf den Felgen holpernd, aber immerhin ein Fahrrad. Ionu] ist der einzige Besitzer eines Fahrrads im ganzen Dorf. Und Carei der einzige, der ein Pferd hat. Cosmin hingegen besitzt gar nichts. Aber er freut sich wie ein Schneekönig, dass er trotzdem als Einziger die Möglichkeit hat, sowohl zu reiten als auch Fahrrad zu fahren!

Wie kann man so arm und doch oft so fröhlich sein? Wie kann man als Junge ganz selbstverständlich sein Bett mit der kleinen Schwester teilen - wo gibt es denn ein Kind ohne eigenes Bett? Und überhaupt, wieso ging dieser Lümmel bisher nicht wie alle anderen zur Schule? Mit sechs oder sieben, nicht mit zwölf! 

In dem kleinen Bergdorf Priscan laufen die Dinge ein wenig anders. Anders, als im nahen Poeni]a, dem Rumänendorf. Anders als in Petersberg, dem nahen Sachsendorf. Priscan klebt am Berg und die vierzig baufälligen Häuser, die meisten nur mit einem einzigen Raum, säumen eine unasphaltierte Straße. Aus Poeni]a oder Petersberg verirrt sich kaum jemand jemals dort hin. Außer der rumänischen Lehrerin...

Cosmin wohnt ausgerechnet in dem Haus direkt neben dem Schulhof.  Dem Haus mit der kleinen Veranda ohne Geländer, das es dort wirklich gibt. Kinderbuchautorin Karin Gündisch hat es ihm ausgesucht - nach einem erlebnisreichen Tag in Priscan und einem unvergessenen Besuch in der Schule, wo die Lehrerin ihr von den Streichen der Kinder erzählte. Beeindruckt beschloss sie, dass der Held ihrer nächsten Geschichte aus diesem Dorf stammen sollte! Doch, um die Geschichte von Cosmin so zu erzählen, wie sie sich auch im wirklichen Leben hätte zutragen können, musste sie viele Bücher lesen, gibt sie im Vorwort des gleichnamigen Kinderbuches zu...  

Cosmin und seine Sippe – das sind fast alle in Priscan, das ganze Dorf ist irgendwie miteinander verwandt – gehören zum Volk der Roma. „Zigeuner“ - aber das sagt man heute nicht mehr, wegen der abfälligen Bedeutung, die das Wort im Laufe der Zeit erlangt hat. Roma kommt von „Rom“, was in der Sprache der Roma einfach nur „Mensch“ bedeutet. Die anderen, die nicht zu ihrem Volk gehören, nennen sie „Gadsche“. Das heißt so viel wie „Bauer“ oder auch „Barbar“. Na ja, vieles, was für die Gadsche in Poeni]a oder Petersberg ganz normal ist, kommt den Roma von Priscan wohl „barbarisch“ vor. Zum Beispiel, Männer- und Frauenkleider zusammen im gleichen Wasser zu waschen. Als Cosmins Schwester Dorina dies aus Versehen einmal tat, mussten alle Kleider sofort an den Secondhandladen für Gadsche abgegeben werden, denn für Roma gelten sie nun als unrein. Woher diese seltsam anmutenden Bräuche kommen? Vermutlich aus Indien, wie auch die Vorfahren von Dorina und Cosmin. Im 11. und 14. Jahrhundert wanderte dieses Volk „friedlich und fast unbemerkt“ auf dem Balkan ein, erklärt die Autorin in einem ausführlichen Nachwort. Und erzählt vieles, was uns die Geschichte von Cosmin besser verstehen lässt: Wie die Roma in den rumänischen Fürstentümern, in der Walachei und der Moldau, zuerst als Feinde betrachtet und dann zu Unfreien gemacht wurden. Als billige Arbeitskräfte konnten sie wie Sklaven verkauft, verschenkt oder vererbt werden, durften ohne Erlaubnis nicht heiraten und keine Kinder kriegen. Die schwerste Zeit aber war nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Unter General Antonescu wurden sie aus Rumänien in Arbeitslager in die Ukraine geschickt, wo viele verhungerten oder erfroren. Die alte Puri, Kräuterfrau und Beerensammlerin, die direkt gegenüber von Cosmins Familie wohnt, kann davon noch lebhaft berichten. Noch schlimmer erging es jenen, die nach Westeuropa und Deutschland weitergewandert waren. Viele wurden Opfer der nationalsozialistischen Politik, verfolgt und in Konzentrationslagern umgebracht. Aber: Keine Angst vor trockener Geschichte! Die kommt erst als Zugabe am Ende des Buchs, wenn uns Cosmins Geschichte so richtig neugierig darauf gemacht hat.

Begleiten wir ihn erst mal durch seinen Alltag: Es passiert viel Lustiges, Komisches, Seltsames, Skurriles, manchmal auch Trauriges, oder erst mal völlig Unverständliches. Denn wir bewerten alles vor unserem persönlichen Hintergrund - und der ist vielleicht ganz anders als bei Cosmin. Wie kann es sein, dass seine Mutter Chiva ihr jüngstes Kind gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat? Dass sie heim kam aus dem Krankenhaus ohne das Baby, wo sie doch alle ihre Kinder liebt? Auch die kleine Adriana wurde im Gegensatz zu Dorina und Cosmin in einem Krankenhaus geboren. Die Wehen kamen mitten auf dem Markt, wo Chiva Besen verkaufte, eine Medizinstudentin rief die Rettung, das Neugeborene bekam zum Dank ihren Namen – und eine echte Geburtsurkunde. Was ist mit dem Vater, wieso ist er verschwunden, warum spricht niemand darüber? Schon lange kann die Familie die Stromrechnungen nicht mehr bezahlen. Der Fernseher, Spende einer Wohltätigkeitsorganisation, bleibt stumm. Bis die Lehrerin der Mutter von Cosmin einen Vorschlag macht: Fernsehen, mit dem Strom von der Schule – im Tausch dafür soll der Junge endlich Lesen lernen! Cosmin ist gar nicht begeistert. Doch wenigstens gibt es dort täglich einen Kipfel und einen Apfel. Immer Hunger haben, für die meisten Kinder in Priscan ganz normal, ist auch nicht lustig. 

Als Cosmin eines Tages von zuhause wegläuft, verärgert über die Schule und fest entschlossen, endlich erwachsen zu werden und seiner Mutter nicht mehr auf der Tasche zu liegen, wird die Reise für ihn zu einer Chance. Er muss sich ganz ohne Geld durchschlagen, in einem Häuschen auf dem Spielplatz übernachten, bis ihn der Parkwächter verjagt, er lernt freundliche Leute, aber auch solche mit seltsamen Ansichten kennen. Abenteuer um Abenteuer besteht Cosmin in der Ferne, bis ihn die Sehnsucht nach Zuhause irgendwann doch überwältigt. Autostopp am LKW-Parkplatz. Ein verlockendes Versprechen. Und endlich wieder daheim. Doch auf dem letzten Abschnitt der Reise ist ein flammender Wunsch in ihm herangereift! Nur, dass er dafür  einen Schulabschluss braucht… 

„Ich habe einen Traum“, schreibt Karin Gündisch am Ende ihres Vorworts. „Die Kinder dieser Welt gehen alle zur Schule und lernen. Dadurch wird ihr Leben besser. Von diesem Traum wollte ich erzählen, und wo er spielt, ist eigentlich nicht so wichtig.“ 

Könnte Priscan tatsächlich nicht überall sein? Und Cosmin der Junge oder Dorina das Mädchen in deiner Klasse?  Vielleicht heißen sie im wirklichen Leben anders. Oder, bist du vielleicht Dorina, Cosmin? Wie immer es auch sei, ist es spannend, mal in Gedanken in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Im Roman – und erst recht im wirklichen Leben.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Das vorliegende Buch  ist im Erasmus Büchercafe in Hermannstadt/Sibiu erhältlich oder über die Webseite des Schiller-Verlags www.schiller.ro zu beziehen.