„Ana, mon amour“ – das Drama eines jungen Paares im Mittelpunkt

Călin Peter Netzers jüngster Spielfilm in den rumänischen Kinos

In den ersten Minuten des neuesten Films des 1975 im rumänischen Petroşani geborenen Regisseurs Călin Peter Netzer glaubt man, einem kinematografischen Werk beizuwohnen, das auf dem schmalen Grat zwischen Erotik und Pornografie dahinwandelt, wie Patrice Chéreaus „Intimacy“, Bernardo Bertoluccis „Die Träumer“, Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“, Lars von Triers „Nymphomaniac“ oder zuletzt Gaspar Noés „Love“. Doch der Schein trügt! Die sexuell-sinnliche Fassade der Eingangssequenzen wird schon bald durchsichtig auf die dahinter schwärende psychologische Problematik in der Paarbeziehung zwischen Toma (Mircea Postelnicu) und Ana (Diana Cavallioti), im personalen Selbstbezug der beiden Liebenden, in ihrer je verschiedenen Identitätssuche und in ihrer je eigenen Psychopathologie.

Bereits die Anfangsszene des Films schlägt den Zuschauer in Bann, noch bevor es dann körperlich richtig zur Sache geht. Es handelt sich dabei um eine der ersten, vielleicht die erste Begegnung der ineinander Verliebten im intimen Schutzraum von Tomas Studentenbude. Ana und Toma reden über verschiedene Lebensentwürfe, über Gesellschaft, Normen und Moral, und die Atmosphäre knistert vor unausgesprochener und unterdrückter Erotik, bis immer lauter werdende und schließlich nicht mehr zu überhörende Kopulationsgeräusche aus dem Nebenzimmer die Fortsetzung des vertraulichen Gesprächs unmöglich machen. Ana befällt daraufhin plötzlich eine Angst- und Panikattacke, die sie, weil sie ihre Medikamente nicht finden kann, mit Hilfe von Toma bewältigt, indem sie seine Hand auf ihren Körper zieht und sich so durch die von ihr geleitete erotisch-therapeutische Berührung Tomas selbst beruhigt.

Netzers Film ist jedoch – auch hier trügt der anfängliche Schein! – nicht chronologisch aufgebaut, vielmehr mischen sich in ihm fortwährend Szenen aus der Frühzeit der Beziehung zwischen Ana und Toma mit Szenen aus der Zeit ihrer Ehe, Szenen mit Anas seelischer Krankheit wechseln mit solchen aus Tomas Psychotherapie nach der Scheidung, Szenen mit den beiden Elternpaaren reihen sich an solche mit Anas und Tomas gemeinsamem Kind Ştefan. Der Genuss der Betrachtung dieses Films verwandelt sich dabei gleichsam unter der Hand in eine Arbeit der Rekonstruktion, die die eigentliche Filmhandlung sukzessive erst herzustellen hat. Der Montage der einzelnen Filmsequenzen kommt dabei selbstredend erhöhte Bedeutung zu, und so verwundert es nicht, dass die in „Ana, mon amour“ für den Schnitt verantwortliche Dana Bunescu bei der 67. Berlinale in der deutschen Hauptstadt vor ein paar Wochen für diese herausragende künstlerische Leistung mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Auch das hervorragende Sound Design dieses Films, bei dem alle Dialoge perfekt verständlich sind – eine Seltenheit im rumänischen Film der Gegenwart! – geht auf das künstlerische Konto Dana Bunescus.

Aber auch Călin Peter Netzers Film selbst hätte auf dem Berliner Internationalen Filmfestival durchaus den Hauptpreis, den Goldenen Bären für den besten Film, verdient gehabt, denn er wartet, auch in Nebenrollen, mit hervorragenden Schauspielern auf, wie etwa: Adrian Titieni, Vlad Ivanov, Carmen Tănase, Tania Popa, Vasile Muraru, Răzvan Vasilescu. Viele Szenen oder Sequenzen aus „Ana, mon amour“ sind kleine Kunstwerke an und in sich, so zum Beispiel die Szene in einer Bukarester Kirche, bei der ein Pope (Vlad Ivaonv) dem knienden Toma die Beichte abnimmt und ihn anschließend im Kirchengestühl Platz nehmen heißt. Man sieht dann den zerknirschten Toma dasitzen, dazwischen die hieratische Ikone Christi, in einem geneigten Spiegel das Gesicht des Popen, der sich Toma zu und vom Zuschauer wegwendet. Der starre Blick Christi, der irrende Blick Tomas wie der milde und zugleich strafende Blick des Popen bringen einen ungeheuren Bedeutungsreichtum in diese kleine, nur scheinbar unscheinbare, Szene, von welchen es in diesem Film die Fülle gibt.

Zugleich entwirft der Film auch ein realistisches und zugleich überaus plastisches Bild der rumänischen Gesellschaft der Gegenwart mit ihren Spannungen und Widersprüchen: dem Nebeneinander von Selbstbestimmung und Abhängigkeit, dargestellt in den Beziehungen von Toma und Ana zu ihren Elternpaaren, der Mischung aus Progressivität und Traditionalität, verkörpert im Freundespaar Bogdan (Ionuţ Caraş) und Irina (Ioana Flora), dem Beieinander von Aberglauben und wissenschaftlichem Denken, symbolisiert durch Massen von Reliquienpilgern und Ärzte aller Art, schließlich dem Miteinander von Glauben und Aufgeklärtheit, anschaulich in Szene gesetzt durch die Rollen des Popen (Vlad Ivanov) und des Psychotherapeuten (Adrian Titieni). Die moldauische Provinz (Botoşani) tritt in Gegensatz zum walachischen Piteşti und zur rumänischen Kapitale, die rigide Moral der dörflichen Welt trifft auf die libertäre Atmosphäre Bukarests, die mental teilweise noch im Sozialismus lebende Landbevölkerung auf die juppiehaften Verfechter eines ungehemmten Kapitalismus.

Im Vordergrund steht aber ganz und gar das menschliche Drama der beiden Protagonisten Ana und Toma, deren Geschichte sich im Verlaufe der Filmhandlung gleichsam spiegelbildlich verkehrt. Ist es am Anfang Toma, der die Männerrolle spielt, das Geld verdient und sich um die psychisch kranke Freundin kümmert, wobei der Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch Anas Stiefvater niemals ausgeräumt wird, so ist es am Ende Ana, die die dreiköpfige Familie finanziell trägt, während Toma als Hausmann und Vater die traditionelle Frauenrolle übernommen hat. Die Psychopathologie beider, die krankhafte Eifersucht Tomas und die krankhafte Selbstisolation Anas, begegnen sich in der radikalen Ausschließlichkeit, mit der Toma als Kontrollfreak sich total auf Ana konzentriert, wie diese sich, zumindest anfänglich, gänzlich in sich zurückzieht und sich völlig in sich einkapselt. Die schlussendliche Trennung des Paares bekräftigt die Einsicht, dass beide letztlich nicht einander, sondern allein sich selbst oder vielleicht auch nur ein erworbenes Verhaltensschema geliebt haben: Toma die Kontrolle über eine von ihm Abhängige, Ana ihre eigene Abhängigkeit, sei es von Medikamenten, sei es von einem Mann, von einem Kind oder von einem Beruf.

Der Psychoanalyse kommt daher in diesem Film eine überragende Bedeutung zu, und die spekulativen Gedanken, die Toma und sein Psychotherapeut bei den Behandlungen mithilfe von Traumerzählungen und freiem Assoziieren auf der Couch zur Sprache bringen, knüpfen ein ungeheures Netz von seelischen Abhängigkeiten, durch dessen Maschen der Patient jederzeit in unermessliche Tiefen und grässliche Abgründe fallen und stürzen kann. Gerade in Übergangsgesellschaften wie dem Rumänien dieser Tage können derlei zwischenmenschliche  Spannungen zu einer besonderen seelischen Zerreißprobe werden und der soziale Druck auf den Einzelnen zum Auslöser einer bedrohlichen Existenzkrise. Călin Peter Netzer knüpft mit seinem neuesten Film „Ana, mon amour“, der auf dem 2006 bei Polirom in Bukarest erschienenen Roman „Luminiţa, mon amour“ von Cezar Paul-Bădescu basiert, an seinen Erfolgsfilm „Poziţia Copilului“ – der deutsche Filmtitel lautet „Mutter & Sohn“ – an, der vor vier Jahren auf der 63. Berlinale den Goldenen Bären erhalten hat, und dieses jüngste Opus magnum von Călin Peter Netzer lässt mit Fug und Recht in der Zukunft auf weitere Meisterwerke jenes Filmkünstlers und Gegenwartsanalytikers des zeitgenössischen rumänischen Kinos hoffen.