Auf dem Weg zur abstrakten Farben- und Formensprache

Wassily Kandinsky, Visionär der Moderne, wurde vor 150 Jahren geboren

Er war schon 30, als er 1896 nach München kam, um Malerei zu studieren. Aber binnen weniger Jahre wurde der Russe Wassily Kandinsky zum radikalen Erneuerer der Kunst unserer Epoche. Sein Glaube an eine abstrakte Farben- und Formensprache kam aus seinen ungewöhnlich starken optischen Reaktionen. Er besaß ein absolut eidetisches Gedächtnis, konnte sich Form, Farbe und Ort eines jeden Gegenstandes vor Augen rufen und sie wie mit einer Laterna magica auf die wirkliche Welt projizieren. Er vermochte Farben zu „hören“ und Klänge zu „sehen“. Und er war genauso wie van Gogh besessen vom Stilmittel der Personifikation, nämlich Nichtmenschlichem menschliche Gefühle zuzuschreiben. Als Emigrant in München und danach im Voralpenland, in Murnau, war er besonders empfänglich für die mystisch-romantischen Strömungen des Jugendstils, die sehr abstrahierten Formen der Art nouveau, und als Russe fühlte er sich auch der Tradition der Ikonenmalerei verpflichtet. Nimmt man dann noch seine Liebe zur Volkskunst hinzu, dann hat man eine Vorstellung von der unvergleichlichen Farbigkeit seiner Bildgründe.

Anfangs malte Kandinsky neben einigen neoimpressionistischen Landschaftsbildern in Tempera noch russische Motive und mittelalterliche Szenen. Das erste große Bild, „Das bunte Leben“ von 1907, lässt auf dem Gipfel eines Berges golden den Kreml wie das himmlische Jerusalem über einer bunten Menge erstrahlen. Es scheint kaum vorstellbar, dass derselbe Künstler drei Jahre später das erste abstrakte Bild in der Kunst malen würde. Dennoch lassen sich zwischen den Farbtupfern der russischen Szenen und Märchenbilder, die juwelenartig auf dunklen Grund gesetzt sind, oder den unregelmäßigen Flecken und gegeneinander abgesetzten reinen Farbzonen der ersten Murnau-Landschaften und ersten „Improvisationen“ von 1908/09 schon Verbindungen ziehen zum Divisionismus der Neo-Impressionisten und den frühen Bildern der Fauves (Matisse und Derain). Über die Farbzerteilung der Neo-Impressionisten und über die Technik der Fauves, die allein durch Farbe bewegte Strukturen auf der Bildoberfläche erzielten, gelangte der Künstler allmählich zur Auflösung des Gegenstandes.

Die Murnau-Landschaften markieren einen künstlerischen Neubeginn, sie zeigen eine üppig farbige, spielzeugartige, lustvolle Welt, eine leuchtende tupfenartige Farbgestaltung, und diese romantische Vision der Unschuld taucht in Kandinskys Arbeiten als Relikt einer vergangenen slawischen Märchenwelt immer wieder auf. Schon 1903 war ein erster blauer Reiter über Berg und Tal galoppiert. Die letzte Wandlung erfährt der Märchenritter dann im Sinnbild des Heiligen Georg, des Drachentöters. Schließlich schmückt der kämpfende Ritter den Umschlag des Almanachs „Der Blaue Reiter“ von 1912. Wenn auch der Durchbruch zur Abstraktion erst 1910 einsetzt, werden Kandinskys künstlerische Absichten schon viel eher ersichtlich: Seine Bilder sollten einen Geisteszustand schildern, sollten Manifestationen der Seele sein. Die von gegenständlichen Bezügen unabhängigen Kompositionen, vom Künstler zunächst als Endpunkt malerischer Auseinandersetzung empfunden, erwiesen sich bald als neuer Anfang, ein Vorstoß auf dem Weg der emotionellen Bilderfindung.

In den Serien der in Analogie zur Musik so genannten Impressionen, Improvisationen und Kompositionen werden alle figurativen Elemente wie von einer unwiderstehlichen Flut hinweggeschwemmt, die aus dem befreiten Unterbewusstsein hervordrängt. Kandinsky weitet den Bildraum durch irrationale gegenstandsfreie Farben ins Unendliche aus, stößt in abstrakte Tiefen vor und kehrt dann aber auch wieder in die vorderste Bildebene zurück.
Sein Buch „Über das Geistige in der Kunst“, das bei seinem Erscheinen 1912 einen starken Einfluss auf abstrakte Künstler ausübte, lebt aus der Überzeugung, dass die Kunst nicht mehr versuchen sollte, die äußere Ansicht der Realität darzustellen, sondern dass unter der Fassade der Dinge tieferliegende Kräfte in der Welt am Werke seien.
Der Kriegsausbruch zwang   ihn 1914 zur Rückkehr nach Russland. Jetzt wird die Bildfläche durch ein völlig raumloses Agieren der einzelnen abstrakten Elemente bestimmt. Unter dem Eindruck des russischen Suprematismus und Konstruktivismus dominieren geometrische Formen, der Kreis, die Linie, der Bogen, doch behält Kandinsky Unregelmäßigkeiten bei. 1922 an das Bauhaus berufen, wird er dann seine Kunst vor einem Schülerkreis als Lehre ausbauen.

Nach der endgültigen Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten emigrierte er 1933 nach Frankreich und zog nach Neuilly-sur-Seine bei Paris, wo er Ende 1944 starb. Ahnend sucht er in seinem Spätwerk eine sphärische Welt makrokosmischer Ordnung zu deuten. Streuung und Ballung, Konzentrationen, Abdrängungen, Tangenten, Strahlungen, Erhellungen und Verfinsterungen, archetypische Formeln bestimmen das Sein. Dass sich bei ihm höchste Empfindsamkeit stets mit Kontrolle und Kreativität verbindet – das macht ihn zu einem der bedeutsamsten Maler des 20. Jahrhunderts.