Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit

Axel Barners Reiseerzählung „Äthiopisches Album“ vor Kurzem erschienen

„Das Unterwegssein auf staubigen Straßen definiert uns als das, was wir sind.“ Dieser Satz von Jean-Paul Sartre ist nicht nur das Motto der jüngst im Geest-Verlag (Vechta) veröffentlichten Reiseerzählung „Äthiopisches Album“ von Axel Barner, sondern könnte geradezu auch als Wahlspruch über dem gesamten bisher erschienenen literarischen Oeuvre des Berliner Schriftstellers, Literaturwissenschaftlers und Deutschlehrers stehen. In seinen Reiseminiaturen „Umwege nach Moabit“ (2010), in seinem Reisekrimi „Der Weg nach Timbuktu“ (2014), aber auch in seinen diversen imagologischen Studien über das Bild Rumäniens und speziell Bukarests in der deutschen Literatur (als Autor wie als Herausgeber) stellt Axel Barner das Reisen als Selbstbegegnung und Fremderfahrung, als intrapersonale wie als interkulturelle Auseinandersetzung ins Zentrum seines Schreibens. Als weit gereister und polyglotter Autor kann Axel Barner nicht nur auf einen immensen Fundus von Reiseerlebnissen zurückgreifen, sondern auch auf substantielle persönliche Erfahrungen, die er sich im Laufe mehrjähriger sukzessiver Auslandsaufenthalte auf mehreren Kontinenten (in der Türkei, in Rumänien, in Frankreich, in Äthiopien) erworben hat.
Brenner, der Protagonist von Axel Barners „Äthiopischem Album“, teilt mit dessen Verfasser die weltweiten beruflichen Einsätze, zwar nicht als Deutschlehrer, aber als Ingenieur für Wasserbau in der Entwicklungszusammenarbeit. Wie Barner hat Brenner in Hildesheim das Gymnasium besucht, wie jener ist dieser nach dem Abitur zum Studium nach West-Berlin gegangen (jener als Student der Germanistik und Geschichtswissenschaft, dieser als Student der Hydrologie), und beide haben nach der Studienzeit einen global orientierten Berufsweg eingeschlagen, der Autor als Deutschlehrer und Literaturwissenschaftler, seine narrative Figur als Mitarbeiter im World Food Programme der Vereinten Nationen.

Das narrative Thema der Selbstbegegnung klingt bereits im ersten Kapitel von Barners „Äthiopischem Album“ an. Brenner ist auf dem Weg zu einem Klassentreffen in seiner Heimatstadt Hildesheim, die er seit seinem vierzig Jahre zurückliegenden Abitur nicht mehr betreten hat. Die Fremdheit gegenüber der eigenen Vergangenheit verbindet sich dabei mit der Erfahrung der ihm fremd gewordenen Heimatstadt. „Was einst eine Badeanstalt oder ein Schwimmbad war, nannte sich ‚Wasserparadies’, eine Krankenkassenfiliale hieß ‚Leistungszentrum’, aus einem Fahrkartenschalter war ein ‚Servicepunkt’ geworden, aus einem Imbiss ein ‚Döner King’, aus einem Einkaufszentrum eine ‚City-Mall’, aus einem Baugeschäft eine ‚Projektrealisierung’ und aus einem Blumengeschäft eine ‚Flower Factory’.“ (S. 13f.) Und nicht nur anlässlich der Wiederbegegnung mit seinen alten Klassenkameraden gerät Brenner ins Sinnieren: „Heimat also? Nein, dies war seine Heimat nicht mehr! Heimat war zu etwas Fernem, schwer Erreichbarem, ja sogar Fremdem geworden. Nicht nur Brenner hatte sich von ihr entfernt, sondern auch die Heimat von ihm.“ (S. 14)

In Hildesheim fällt auch der Name von Barbara Scholz, der Geliebten Brenners am Ende ihrer beider Gymnasialzeit, die vom Organisator des Klassentreffens als „offensichtlich verschollen“ (S. 16) gemeldet wird. Barbaras Mutter, die Brenner am nächsten Tag besucht, berichtet ihm von Barbaras Arbeit als Veterinärmedizinerin und Rinderzüchterin in Afrika (Ghana, Mali, Elfenbeinküste). Seit mehr als einem halben Jahr sei sie nun verschwunden, zuletzt habe sie in Äthiopien gearbeitet. Von diesem Punkt an lässt Barbaras Schicksal ihren Jugendgeliebten nicht mehr los. „Plötzlich verspürte er das Bedürfnis, sich durch die Suche nach Barbara auch auf die Suche nach seinem eigenen Leben zu machen.“ (S. 30) In seine Berliner Wohnung zurückgekehrt, beginnt Brenner zu recherchieren, und bereits wenige Tage später sitzt er im Flugzeug nach Addis Abeba. Aus einer introspektiven und retrospektiven Lebensdarstellung ist unter der Hand eine anschauliche Reiseerzählung und eine spannende Detektivgeschichte geworden, die den Leser vom dritten bis zum zehnten und letzten Kapitel des „Äthiopischen Albums“ immer stärker gefangen nimmt und bis zum Schluss in Atem hält.

Zunächst steht die äthiopische Hauptstadt, in der Brenner nach seiner Ankunft auf dem Bole International Airport Quartier nimmt, im Mittelpunkt. „Feucht und schwer schlug ihm der Atem der Stadt entgegen, als er die Halle verließ, faulig roch es nach Abgasen, Abfall, brennenden Müllhaufen, Schimmel und Moder – der Atem eines alten Mannes.“ (S. 39) Die einzelnen literarischen Stadtbilder von Addis Abeba, aus denen sich nach und nach mosaikartig ein veritables Stadtporträt zusammensetzt, werden in Axel Barners Reiseerzählung noch durch farbige Illustrationen der Berliner Künstlerin Hélène Verger (helene-verger.de/) ergänzt, die die äthiopische Wirklichkeit dokumentarisch-artistisch kongenial in Szene setzen, zumal, neben dem Umschlagbild, die vier Kunstwerke Hélène Vergers in Axel Barners Buch (S. 40, 74, 86 und 158) benachbarte Textstellen lebendig kommentieren, als sei das Bild aus dem Text hervorgegangen oder der Text aus dem Bild.

Neben der äthiopischen Kapitale erscheint auch die körperliche Schönheit der weiblichen und männlichen Amharen auf der textlichen Bildfläche, ferner diverse Landesbewohner wie Taxifahrer, Bettler, Krüppel oder Schuhputzer (und als Kontrast dazu deutsche Diplomaten sowie polnische und Schweizer Expats), Vertreter äthiopischer Institutionen (Öffentliche Verwaltung, Polizei, Kirche), ein äthiopischer Geheimdienstoffizier, touristische Sehenswürdigkeiten in Addis Abeba oder Harar, verschiedene Dörfer und wechselnde Landschaften, Nahrungsmittel und Kulinarisches, psychotrope Genussmittel wie etwa Khat, landesübliche Sitten und Gebräuche (darunter der Brauch, die Uhrzeit nach dem Sonnenaufgang zu berechnen, wonach sich fünf Uhr äthiopisch gesehen in elf Uhr verwandelt) und vieles andere mehr.
Doch niemals verliert Brenner sein Ziel aus den Augen, seine verschwundene und vermisste Jugendliebe Barbara wieder zu finden. In Awash trifft er den polnischen Agronomen Adam Kapuscinski, der für Oxfam Great Britain ein Viehzuchtprojekt in der Region betreut, in Harar begegnet er einem Schweizer Missionarssohn namens Siegfried, dem Inhaber der Pension „African Village“. Beide kennen Barbara gut, die in Addis Dabo bis zu ihrem Verschwinden als Rinderzüchterin tätig war. In Dire Dawa besucht er Yared Solomon, einen ehemaligen Mitarbeiter Barbaras, der Brenner vom psychischen Zusammenbruch seiner Chefin berichtet. Sie habe es seelisch nicht verkraftet, dass ihre Rinderherde nach der Rückkehr von einer längeren Reise nicht mehr auffindbar gewesen sei. Danach sei auch Barbara selbst wie vom Erdboden verschluckt gewesen.

Doch Brenner gelingt es trotz allem, den Aufenthaltsort Barbaras in Erfahrung zu bringen. Sie befindet sich in Shinkuru Mikael, wo sie christlichen Exorzisten in die Hände gefallen ist, die den bösen Dämon, von dem jene sie besessen glauben, mittels Wasserkuren auszutreiben versuchen. Mit Hilfe des Privatdetektivs Motuma gelingt die Befreiung der einstigen Geliebten, die Brenner schließlich in einer Nacht völlig abgehärmt, welk, krank, wahnsinnig und stumm gegenübertritt. Er wäscht sie, trocknet sie, legt sie zu Bett, doch am nächsten Morgen ist sie bereits wieder und nun auch endgültig verschwunden, ohne je ein Wort an ihn gerichtet zu haben. Diese letzte Begegnung mit Barbara ist zugleich eine symbolische Selbstbegegnung, die Brenner in Hildesheim gesucht, dort aber nicht gefunden hatte. Denn Barbara verkörpert – abgesehen von ihrer Besserwisserei, von ihrer moralischen Überheblichkeit, ihrer sozialen Empörung, ihrer Unerbittlichkeit, ihrer Unversöhnlichkeit und ihrem Gutmenschentum (vgl. S. 23, 112, 223 u.ö.) – auch die ungebrochene Kraft idealistischer Vorstellungen und jugendlicher Utopien. In Gestalt der ausgezehrten Barbara, die eisern schweigt und bis zuletzt kein einziges Wort an ihn wendet oder verschwendet, begegnet Brenner seiner eigenen Jugend wieder. Damit endet Brenners äthiopische Reise. Doch die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit, kann sie damit schließen?

Axel Barner, Äthiopisches Album. Eine Reiseerzählung, Vechta: Geest-Verlag 2021, 244 S., ISBN 978-3-86685-852-7, 12,80 Euro.