Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen

Felix Alexas ehrgeiziges Gogol-Projekt im Bukarester ArCuB

Marius Manole und Alexander Bălănescu in Felix Alexas Gogol-Inszenierung Foto: Maria Stefănescu

Das Hirn steckt nicht im Schädel. Es kommt vom Kaspischen Meer. Dies erfährt der auf begrifflicher und emotionaler Ebene systematisch und zielorientiert verunsicherte Zuschauer von Felix Alexas bewundernswerter, auf Emil Iordaches rumänischer Übersetzung basierender Gogol-Inszenierung (Bühnengestaltung: Diana Ruxandra Ion). Die Premiere der dramatisierten Novelle „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ fand am 1. Februar 2013 im Bukarester ArCuB-Saal statt.

Was diese Aufführung sozusagen ohne viel Aufhebens bewerkstelligt, ist eine im teilweise eigentlich durchaus besonnenen Ton formulierte Argumentation aus progressiv entgleisender Sicht. Eine tiefgreifende und – Hand aufs Herz – ziemlich anstrengende Auseinandersetzung mit den grundlegenden Gegebenheiten des Menschseins, mit dem jenseits der Illusion gesellschaftlicher Bindungen vereinzelnden Individuum und seiner Gedankenwelt, mit seiner Dürftigkeit, mit der Unbehaglichkeit des freien Willens und seinen Grenzen. Ein Hader auf allerkleinstem Raum, kurz, ein Verhängnis: Erzählen zu wollen, was in keine Geschichte passt. Die ganze Tragik des Zusammenbruchs von Vernunft und Verstand.

Schon aus dem vor allem auch grafisch gelungenen Programmheft dringt der zum Teil erkundende, zum Teil wissende, zum Teil bangende, ja wie flehende Blick eines Mannes durch, der sich in zunehmendem Maße seiner Befangenheit bewusst wird, ihr dabei jedoch keinen Sinn abzugewinnen vermag und daran schließlich verzweifeln muss. Dank der durchaus überzeugenden Leistung des Hauptdarstellers Marius Manole und der folgerichtig und stimmig ausgearbeiteten (nicht nur) musikalischen Begleitung seines „Alter Ego“ Alexander Bălănescu wird eine vorzüglich ansprechende Diskursivität des szenischen Werdegangs gewährleistet, die den Rahmen der menschlichen Bedingtheit und ihrer überwältigenden Tragik, ja jeden Rahmen – und jedes Zwangshemd – sprengt.

Eine Gogol-Geschichte über ein der geistigen Umnachtung verfallendes Individuum zu einem Hundert-Minuten-Marathonlauf durch eine begrifflich kaum fassbare Seelen-Einöde szenisch aufarbeiten: zu einer „fantastischen und ergreifenden Sinfonie“, zu einem „subtilen Miteinander von Text und Musik, zwischen dem Realen und dem Imaginären“. Nichts weniger hatte der Regisseur Felix Alexa im Sinn, als er an „seinem“ Wahnsinnigen bastelte.

Und jeder Satz, dem Marius Manole mit Schwung und reflektierender Lebendigkeit szenische Wirkung einhaucht, sitzt. Und jede Saite (des Violinisten Alexander Bălănescu) schwingt die wundersamen Töne unseres Selbstseins und unserer Andersseins und unserer ontologischen Einsamkeit in jene Schichten des Seins, die uns am wenigsten behagen: Wo die Gedankenwelt des Individuums nicht mehr im Selbst generiert wird, sondern das gleichsam in seiner Eigenschaft als vernünftiges, als räsonierendes Wesen ausgeschaltete Individuum von außen her überkommt, etwa vom Kaspischen Meer.

In Marius Manoles mal vage aufbegehrenden, mal schier trotzigen, mal wie einsichtig grübelnden, mal verheißungsvoll vielseitig bejahenden Zügen spricht Ungebärdigkeit und Lähmung, Sprachgewalt und Entsetzen: vor dem Alleinsein im weitesten Sinne, vor dem Unvermögen, etwas Gereimtes, etwas in sich Zusammenhängendes zu formulieren, etwas, das auch außerhalb des Selbst (und seines Alter Ego) Bestand hat. Manole spielt den (mutmaßlich) ins Irrenhaus eingewiesenen schizophrenen Helden Poprischtschin, der die Grenzen zwischen dem Normalen und dem Abnormalen dergestalt entschärft, dass einer gar nicht mehr weiß, wann das an sich ja ursprünglich ganz vernünftig, wennschon nicht gleich erbaulich klingende Selbstgespräch eines Durchschnittsmenschen mit überdurchschnittlichen Ambitionen ins total Sinnwidrige ausschwenkt.

Poprischtschin ist der irrende Geist, dem das Gebäude der Logik zu eng wird. Um ihn herum schweben Instanzen einer Wirklichkeit, deren Unschärfe auch auf dem Programmheft bedeutungsvoll und kreativ wiedergegeben wird. Klar erkennbar: Marius Manole, die Verkörperung des Wortes. Um ihn herum, kreisend, paradigmatisch in drei verschiedenen Stellungen abgebildet, mit verschwommenen Umrissen: Alexander Bălănescu, die Verkörperung des Klangs, der Töne, der Mysterien und Urkräfte, die um das Wort herum unter anderem unter Berücksichtigung der in die Aufführung eingebauten erkenntnistheoretischen Zusammenhänge das Sagen haben.

Aufzeichnen heißt Festhalten. Nur, das Schreiben verfällt zu einer mechanischen Tätigkeit, das Denken zu einer zwecklosen, linkischen Handhabung von Begriffen, von Informationen, von Gedankenzügen, die nirgendwo hinführen. Seine Vernunft kommt ihm abhanden. Der Mensch wird entmenschlicht. Und doch.

In den „Aufzeichnungen“ werden sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne viele Bleistifte gespitzt. Und dann werden sie freilich wieder gebrochen: diese brutale Dekonstruktion einer festhaltbaren szenischen Wirklichkeit synthetisiert vielleicht am besten das weit ausholende Bestreben dieses Gogol-Projekts, von der Unsagbarkeit der Dinge zu erzählen.
Was nicht (mehr) gesagt werden kann, was in keine gescheite Formulierung mehr passt, wird durch Musik wettgemacht. Wegweisend, betörend, verdoppelnd, nein, vervielfachend und gleichsam in andere Dimensionen der Wahrnehmung einbettend wirken Bălănescus Töne, beklemmend wirken seine Worte, die nicht seine Worte sind, sondern jene aller sonstigen Personen, und dazu die des Helden dieser zweckmäßig fehlgeratenen Handlung.

Verloren blickt uns Marius Manole entgegen. Uns: den Gefundenen. Dass die „Aufzeichnungen“ letztendlich im wundersamen Aufgehobensein zwischen Text und Musik leserlich werden, gehört zu den mitschwingenden Konsequenzen einer Metatext-Dialogik, an der man noch lange nach dem Fall des Bühnenvorhangs kauen darf.