Bilder der fließenden Welt

Ausstellung japanischer Farbholzschnitte im Bukarester Nationalen Kunstmuseum

In den beiden Kretzulescu-Sälen des Nationalen Kunstmuseums sind derzeit und noch bis Ende dieses Monats japanische Farbholzschnitte aus eigenen Beständen zu sehen, die aus einer Zeit stammen, als die japanische Hauptstadt Tokio noch Edo hieß. Diese so genannte Edo-Zeit (1603-1868), in der die Tokugawa-Shogune die Macht in Japan innehatten, war die längste Friedenszeit der japanischen Geschichte, während der auch die Kultur der städtischen Bevölkerung in großer Vielfalt aufblühte. Musik, Gesang, Tanz, Pantomime, Theater (Kabuki, Bunraku), Dichtung (Haiku, Senryu), Literatur, Kalligrafie, Mode, Unterhaltungskunst (Geishas) und Vergnügungskultur (Sumo, Yoshiwara) nahmen damals einen ungeahnten Aufschwung. Und in dieser künstlerisch fruchtbaren Epoche der japanischen Kulturgeschichte erreichten auch die mit dem Sammelbegriff „ukiyo-e“ (Bilder der heiteren, fließenden Welt) bezeichneten japanischen Farbholzschnitte das Niveau ihrer höchsten Vollendung.

Die als „ukiyo-e“ bezeichnete Druckgrafik lässt sich, neben inhaltlichen und thematischen Gesichtspunkten, auch nach Formaten einteilen. Traditionell ist das vertikale Format („tate-e“) dem Porträt und das horizontale Format („yoko-e“) Landschaften vorbehalten. Daneben gibt es aber auch spezielle Druckformate, die wiederum besondere Namen tragen. Die Bu-karester Ausstellung widmet sich nahezu ausschließlich einem dieser Druckformate mit Namen „hashira-e“, auf Deutsch Säulen- oder Pfeiler-Druck, weil diese langen und schmalen säulen- oder pfeilerförmigen Farbdrucke an hölzernen Pfosten in den Bürgerhäusern angeheftet wurden. Wegen dieser schlanken Form der einzelnen Exponate wähnt man sich in dieser Bukares-ter Schau im ersten Moment auch in einer Ausstellung gotischer Kirchenfenster, bevor man dann auf den zweiten Blick die japanischen Bildmotive und die fernöstlichen druckgrafischen Kompositionen wahrnimmt.

Neben „hashira-e“ mit einer vertikalen Standardlänge zwischen 60 und 73 Zentimetern und einer horizontalen Standardbreite zwischen 10 und 15 Zentimetern gibt es in der Bu-karester Ausstellung auch zwei Beispiele von „kakemono-e“, schmalen und langen hängenden Gemälden, die wie eine Schriftrolle zusammengerollt werden können. Daneben sind auch einige wenige Drucke mit ausgewogenen rechteckigen, nahezu quadratischen Formaten zu besichtigen. Die von Carmen Brad kuratierte und von der Konservatorin Anișoara Popa betreute Bukarester Ausstellung ist museografisch exzellent aufbereitet. Jedes einzelne der über fünfzig Exponate ist mit Titel, Angaben zum Künstler und zur verwendeten Technik genau erfasst, Erläuterungen zum kunst- und kulturgeschichtlichen Hintergrund der Farbholzschnitte ergänzen diese Informationen, wo es nötig ist. Eine Glasvitrine präsentiert die Arbeitsinstrumente der Druckgrafiker, und eine Stellwand gibt Einblicke in den Prozess der Restauration dieser wertvollen Kunstprodukte aus der Edo-Zeit.

Themen der in der Bukarester Ausstellung präsentierten „hashira-e“ sind hauptsächlich: Kurtisanen, Liebespaare, schöne junge Menschen, ausgewählte Haar- und Kleidermode, historische Sujets, Szenen aus der Literatur sowie aus Legenden. In der Edo-Zeit beliebt war das Genre „mitate-e“, was übersetzt so viel bedeutet wie „schau und vergleiche!“: Szenen der zeitgenössischen Gegenwart wurden dabei in Beziehung gesetzt zur historischen Vergangenheit oder zur Welt der Dichtung, und aus dieser sich somit reich entfaltenden metaphorischen Dimension zogen die damaligen Betrachter einen großen Genuss. Einen vielleicht noch größeren Genuss bescheren über-dies die grandiosen Bildentwürfe und Gemäldekompositionen der Künstler der Edo-Zeit, die in diesem spaltenartigen und malerisch im Grunde undankbaren Bildformat „hashira-e“ wahre Meisterwerke schufen.

So gibt es etwa einen Farbholzschnitt von Isoda Koryusai, auf dem drei übereinander angeordnete Kurtisanen zu sehen sind, die gemeinsam in einem Brief lesen, der sich wie ein mittelalterliches Spruchband gewächsartig durch das ganze Bild schlingt, das nach oben hin durch dekorative Schriftzeichen und durch einen in einem hölzernen Behältnis steckenden blühenden Zweig abgeschlossen wird. Ein weiterer Farbholzschnitt desselben Künstlers zeigt einen Reiter auf einer Brücke. Vom Haupt und Oberkörper des Mannes über den Pferdeleib und den tiefer positionierten Pferdekopf gleitet der Blick des Betrachters schließlich hinab bis zur Holzbrücke und zum darunter hervor fließenden Wasser.

Das Bildmotiv der sieben Glücksgötter (sieben vertikal angeordnete Männer und Frauen in einem Segelboot) ist in der Bukarester Ausstellung gleich mehrfach vertreten: neben dem bereits erwähnten Isoda Koryusai gibt es davon auch Varianten von Kitao Shigemasa, von Kikugawa Eizan, von Kitagawa Utamaro und von einem anonymen Künstler. Oft tauchen in den Farbholzschnitten auch Musikinstrumente auf: Shamisen (gezupfte Laute) und Kokyu (gestrichene Laute) erscheinen immer wieder höchst dekorativ angeordnet, und auf einem „hashira-e“ von Hosoda Eishi sieht man unter Wolken eine stehende Hofdame, zu deren Füßen ein junger Mann die Koto (Zither) spielt. Die auf diesem Farbholzschnitt wiedergegebene Szene spielt auf den ersten Roman der japanischen Literatur „Die Geschichte des Prinzen Genji“ an, der aus der Feder der Hofdame Murasaki Shikibu stammt. Die Autorin und ihre Romangestalt sind auf zwei weiteren Holzschnitten zu bewundern: sie auf einer Terrasse am Biwa-See (Torii Kyonaga), er an einem Tisch sitzend und auf poetische Inspiration wartend (Utagawa Kunisada mit herrlicher Linienführung).

Mehrere Liebespaare, immer mit Anspielungen auf berühmte Liebende der japanischen Literatur- und Kulturgeschichte, sind in der Bukarester Ausstellung zu sehen, ebenso mehrere junge Männer, die sich der Falknerei befleißigen. Man sieht eine junge Frau, wie sie sich den Obi, den schärpenartigen Gürtel des Kimonos, bindet. Und man sieht auf einem anderen Farbholzschnitt, wie ein junges Mädchen von einem Balkon einen Ball herab wirft, um die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes zu erregen, der drunten stehend einen Brief liest. Und eine weitere Szene von Chokosai Eisho mit einem Sujet aus der „Geschichte der 47 Ronin“ weist sogar drei Bildregister auf: oben auf dem Balkon eine Frau, die mittels eines Handspiegels das unter ihr sich abspielende Geschehen verfolgt; auf der darunter befindlichen hölzernen Veranda ein Schwertkämpfer; und noch tiefer unter dem Holzboden der Veranda ein Spion, der einen Brief in der Hand hält. So kann man sich in der Bukarester Ausstellung von „hashira-e“ aus der Edo-Zeit lange an diesen farbigen Bildern aus einer heiteren, friedlichen, schönen und lieblich dahin gleitenden Welt erfreuen und gewiss manches davon im Geiste mit nach Hause nehmen.