Bretter, die die Welt bedeuten

Florin Şerbans Spielfilm „Box“ in den rumänischen Kinos

Szene aus dem Film mit Hilda Péter (Cristina) und Rafael Florea (Rafael)

Nach dem großen Erfolg seines ersten Spielfilms „Eu când vreau să fluier, fluier“ (Wenn ich pfeifen will, pfeife ich), für den der Regisseur und Drehbuchautor Florin Şerban bei den Internationalen Berliner Filmfestspielen 2010 mit dem Silbernen Bären, dem Großen Preis der Jury, und mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet worden war, ist jüngst Florin Şerbans zweiter abendfüllender Film in die rumänischen Kinos gekommen, der ebenfalls bereits eine Auszeichnung erhalten hat, und zwar den FIPRESCI-Preis der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique auf dem 50. Internationalen Karlovy Vary Filmfestival im Juli vergangenen Jahres in Tschechien.

Auch bei diesem seinem zweiten Spielfilm führte Florin [erban nicht nur Regie, sondern schrieb dazu außerdem das Drehbuch. Gedreht wurde der Film in Hermannstadt/Sibiu, Sankt Georgen/Sfântu Gheorghe und Bukarest, und die sommerliche Atmosphäre, die der Film atmet, könnte zusätzlich zu seiner künstlerischen Qualität ein Anreiz sein, die nasskalte Winterwelt zumindest anderthalb Stunden lang zu vergessen und sich an den überraschenden Zügen auf dem Spielbrett der Leinwand zu ergötzen. Denn Florin Şerban hat seinen Film „Box“ gleichsam mathematisch exakt wie ein Strategiespiel aufgebaut, bei dem der Regisseur die Akteure wie Spielfiguren bewegt und der Zuschauer der Handlung atemlos Zug um Zug folgt.

Das geheime Zentrum des Films, sozusagen sein Spielzweck, ist die nicht nur körperliche Anziehung zwischen den beiden Protagonisten des Films, dem 19-jährigen Boxer Rafael, dargestellt vom Laienschauspieler Rafael Florea, und der 34-jährigen Provinzbühnenkünstlerin Cristina, dargestellt von Hilda Péter, die im Jahre 2009 für die Rolle der Katalin Varga im gleichnamigen Film mehrere nationale und internationale Preise erhalten hat.
Dass die beiden Hauptfiguren aus völlig verschiedenen Welten stammen, macht das Spiel des Films bereits von Beginn an besonders reizvoll. Cristina arbeitet auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Als Schauspielerin probt sie Tschechows Drama „Drei Schwestern“, während ihr Ehemann George, dargestellt von Sorin Leoveanu, ebenfalls als Schauspieler tätig ist und an einer Produktion von Shakespeares Tragödie „Hamlet“ mitwirkt. Das Verhältnis Cristinas zum Regisseur (Cătălin Mitulescu) des Tschechow-Stücks wird im Film als konfliktual geschildert, und auch das Verhältnis zum Ehemann George erscheint brüchig, zumal die gemeinsame kleine Tochter in der familialen Kommunikation eher auf Seiten des Vaters steht.

Im Gegensatz dazu arbeitet Rafael in einer Welt, in der man, wenn man sich nicht richtig zu verteidigen weiß, unweigerlich auf die Bretter geschickt wird. Rafael möchte Profi-Boxer werden, und Florin Şerban hat die Welt des Boxsports realistisch, vielleicht sogar eine Spur zu aufdringlich filmisch in Szene gesetzt. So treten in den Boxszenen echte rumänische Landes- und Europameister und sogar ein wirklicher Weltmeister (Marian Simion in der Rolle des Trainers) auf, und Rafaels Großvater wird von einem Schauspieler (Nicolae Motrogan) verkörpert, der selbst einmal Boxeuropameister war. Rafaels Verhältnis zu seinem Trainer wird, wie das Cristinas zu ihrem Regisseur, im Film als spannungsvoll charakterisiert, wobei die Forderung von Rafaels Promoter, er solle seinen nächsten Kampf freiwillig verlieren, um dadurch seine Karriere voranzubringen, eine existentielle Krise in dem jungen Boxtalent auslöst, der sein täglich Brot als ungelernte Arbeitskraft in einer Autowäscherei verdient.

Neben ihrem Willen, sich mit ganzer Kraft auf die große Show, sei es auf der Bühne, sei es im Boxring, vorzubereiten, neben ihrer Beharrlichkeit, sich auch gegen widrige Umstände und hinderliche Autoritäten durchzusetzen, eint die beiden Protagonisten Rafael und Cristina zudem ihr jeweiliges Anderssein: Als Rumänen gehören sie beide anderen Ethnien an, Rafael ist Rom, Cristina Ungarin. Und beide eint sie das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung, die ihnen in ihrem jeweiligen Alltag kaum zuteil werden.

Den ersten Zug bzw. die ersten Schritte unternimmt Rafael, der der vom Theater nach Hause gehenden Cristina Tag für Tag auf dem Fuße folgt, ohne sie freilich jemals anzusprechen. Als er sich bei einer gemeinsamen Busfahrt einmal, obwohl der Bus fast leer ist, unmittelbar hinter sie setzt, signalisiert sie ihm, dass sie die Herausforderung annimmt, indem sie aufsteht und sich ihrerseits hinter Rafael setzt. Als Rafael sie dann bei einem Spaziergang durchs nächtliche Hermannstadt wieder einmal verfolgt, bleibt sie plötzlich stehen und gibt ihm eine Ohrfeige, die er seinerseits, wenngleich schwächer, erwidert. Das Spiel steht also unentschieden. Irgendwann fasst sich Rafael dann doch ein Herz und lädt Cristina in ein Café ein, wo er ihr die unmöglich zu beantwortende Frage stellt, ob sie ihn geheiratet hätte, wenn er damals, also in einem Raum fiktiver Zeitlosigkeit, um ihre Hand angehalten hätte.

Das Spiel, das damit zu Ende scheint, wird aber im Film gleichwohl fortgesetzt. Cristina beschließt eines Abends, Rafael im Haus seines Großvaters unangemeldet aufzusuchen, just an dem Abend, an dem Rafael in Klausenburg/Cluj einen wichtigen Kampf hat, den er auf Weisung seines Promoters verlieren soll und dann auch tatsächlich verliert. Cristina schläft in dieser Nacht in Rafaels Bett, nachdem dessen Großvater sie nach anfänglichem Widerstreben ins Haus gelassen hat. Als Rafael, der den Nachtzug in Klausenburg verpasst hat, am nächsten Tag heimkehrt, ist Cristina bereits verschwunden. In der Schlussszene des Films sieht man Cristina alleine ein Hotel betreten. Wenige Augenblicke später erscheint Rafael und geht nach ihr durch dieselbe Tür.

Ob man diesen Filmschluss als Happy End deuten kann oder soll, mag dahingestellt bleiben. Um sich der Terminologie des Schachspiels zu bedienen und auf dem Brett der Tatsachen zu bleiben, könnte man das Filmende folgendermaßen kommentieren: Das Spiel hat die Eröffnungsphase überwunden und geht ins Mittelspiel über. Beide, Cristina und Rafael, haben sich als würdige und ebenbürtige Spielpartner erwiesen, jeder von ihnen hat mit seinen je eigenen Mitteln den Kampf, gegen sich und gegen die Umwelt, aufgenommen und auf seine besondere Weise durchgestanden: Rafael mit Blut, Schweiß und Schmerz, Cristina mit Mühsal, Tränen und Schweigen.

Ob die beiden Partner das Endspiel je erreichen werden, bleibt offen. Das Unmögliche, Unglaubliche und Unwahrscheinliche dabei wird im Film allein von Rafael zur Darstellung gebracht, da dieser seine Gefühle veräußerlicht und nicht, wie Cristina, in sich hineinnimmt. Eine erste Aufgabe, die ihm sein Großvater gestellt hat, konnte Rafael erfüllen: Er hat einen alten Bretterzaun mit der Axt zertrümmert und an dessen Stelle einen neuen Bretterzaun montiert. Die neue Aufgabe bringt ihn jedoch an seine Grenzen: Er soll einen alten Walnussbaum fällen, was ungleich schwieriger ist, als dünne oder dicke Bretter zu bohren. Man sieht Rafael zum Schluss mit der Axt auf den mächtigen Stamm einhauen, der unbeschadet seiner Hiebe einfach weiter dasteht. Ein besseres Bild für das Spiel, das dieser Film ist, kann es nicht geben!