Caragiales Komödie „Der verlorene Brief“ als Musikdrama

Uraufführung von Dan Dedius jüngster Oper in Bukarest

Kurzweiliger Opernabend: Szene aus Dedius „Der verlorene Brief“

Auch noch fast 130 Jahre nach ihrer Bukarester Uraufführung erweckt Caragiales Komödie „Der verlorene Brief“ den Eindruck, als sei sie dem Rumänien unserer zeitgenössischen Gegenwart unmittelbar auf den Leib geschrieben. Man diskutiert erregt über die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen und über die Reform des Wahlrechts, einer ruft indigniert: „Von eurem Europa will ich nichts wissen, mich interessiert nur mein Rumänien!“, Erpressung, Bestechlichkeit, Vorteilsnahme und Korruption gehören zu den Kavaliersdelikten des politischen und gesellschaftlichen Alltags und es gilt allenthalben die Devise: „In einer Gesellschaft ohne Moral und ohne Prinzipien hilft allein Geduld und Diplomatie!“.

Vielleicht war es nicht das Caragiale-Gedenkjahr – Ion Luca Caragiale ist vor exakt 100 Jahren in seiner Wahlheimat Berlin gestorben –, sondern gerade jene bestürzende Aktualität des großen rumänischen Dramatikers, die den 1967 in Brăila geborenen Komponisten und gegenwärtigen Rektor der Nationalen Musikuniversität Bukarest Dan Dediu zu seinem Musikdrama inspirierte, das am 16. Dezember in der Bukarester Nationaloper seine umjubelte Uraufführung erlebte. Das auf Caragiales Komödie fußende Libretto zu Dedius Oper stammt von Ştefan Neagrău, der bei dieser Erstinszenierung auch Regie führte.

Wer Vorbehalte gegen das zeitgenössische Musiktheater hat, wer meint, moderne Opern seien schwierig, unsanglich und generell wenig ansprechend, wird von Dan Dedius neuestem Oeuvre schnell eines Besseren belehrt. Der Komponist greift mit beiden Händen hinein ins volle Leben der Weltmusik und bedient sich dabei verschiedenster Musikrichtungen und Musikstile: Er stellt Tanzmusik neben ironische Wagner-Zitate, rumänische Folklore neben argentinischen Tango, türkischen Peschrev neben brasilianischen Bossa Nova, Ravels Bolero neben Verdische Dramatik, Bizets Habanera neben Offenbachs Can-Can, die rumänische Horă neben den russischen Kasatschok.

Der argentinische Tango in seinen vielfältigen Ausprägungen bis hin zu Piazzollas Tango Nuevo bildet, neben der rumänischen Volksmusik, das tragende rhythmische und melodische Substrat der Oper Dedius. Der Tango, dessen Wortbedeutung sich vom lateinischen „tangere“ (berühren) herleitet, wird gleichsam zum musikalischen Symbol der politischen Komödienhandlung.

Anziehung und Anzüglichkeit, Macht und Erotik, Berührung und Verführung verschwistern sich in der Gestalt der weiblichen Hauptfigur Zoe Trahanache, beeindruckend gesungen von Simonida Luţescu, die durch den Verlust eines an sie gerichteten Liebesbriefes gleich zwei Parlamentskandidaten zu Fall bringt, damit am Ende – so das ironische Finale des Dramas – ein dritter Kandidat triumphiert, der seinerseits seine Nominierung einem von ihm gefundenen und erpresserisch eingesetzten Liebesbrief verdankt.

Der Tango, bei dem sich die Partner gegenseitig umgarnen und verstricken, wird jedoch in Dedius Oper nicht nur als Gesellschaftsmetapher inszeniert und als musikalische Form intoniert, sondern er wird darüber hinaus als veritabler Tanz auf die Bühne gebracht, exzellent dargeboten von den Ballettsolisten Monica Petrică und Raul Oprea.

Doch auch rumänische Volksmusik wird von Dan Dediu in seinem Musikdrama ausgiebig verwendet, vor allem in den Massenszenen des zweiten Aktes, die den Akten III und IV des Caragialeschen Dramas entsprechen. Polyphonisch strukturierte Trinklieder, die Wein und Bier verherrlichen, rahmen die gesamte Oper ein.

Der Chor, der seine Texte im Stile regionaler rumänischer Volkslieder vorträgt, wird auf der Bühne zur schunkelnden Volkstanzgruppe, ja zum Volk selbst, das nach rumänischer Sitte in ausgelassener Stimmung Grillwürstchen verzehrt. Die von allen Chorsängern am Revers getragene rumänische Trikolore wird dabei zur politischen Aussage. Die Korrumpierung der demokratischen Idee, die Pervertierung des wahrhaft Politischen wird kompensiert durch übersteigerte nationale Verbrüderung: „Gestern Traurigkeit, heute Fröhlichkeit! Das sind die Vorteile des Fortschritts! Das sind die Wohltaten eines Verfassungssystems! Musik! Musik!“.

Dan Dedius Oper ist einfacher und zugleich komplexer als Caragiales Drama. Sie ist einfacher, weil sie sich auf der Basis von Ştefan Neagrăus Libretto auf die Haupthandlung der Caragiale-Komödie konzentriert und deren Nebenstränge souverän vernachlässigt.

Sie arbeitet Wesentliches heraus – so wird zum Beispiel der verlorene Liebesbrief gleich in der Eingangsszene gefunden und dem Finder wieder entwendet – und fügt außerdem erläuternd Neues hinzu: So wird in einem musikalischen Interludium das erpresserische Handeln Dandanaches von zwei Logen des Zuschauerraums herab pantomimisch in Szene gesetzt, während jenes in Caragiales Drama erst im Nachhinein enthüllt wird. Komplexer ist Dan Dedius Oper darin, dass sie im Gesang simultan auf die Bühne bringt, was im dramatischen Sprechen zur Sukzessivität verdammt ist.

Beiseite Gesprochenes ist plötzlich simultan präsent, Gegenläufiges und Widersprüchliches wird gleichzeitig hörbar. So kommen zum Beispiel die politischen Gegner Farfuridi und Caţavencu beide miteinander zu Wort, indem sie parallel jeder ihren eigenen Text singen.

Besondere Erwähnung verdient das Bühnenbild von Viorica Petrovici. Eine omnipräsente Kulisse von Zeitungslesern, die eifrig den „Schrei der Karpaten“ oder den „Krieg“ studieren, macht deutlich, dass das Öffentliche auch im Privaten immer mit anwesend ist, ja, dass die Grenzen von Privatem und Öffentlichem geradezu verschwimmen, was in letzter Instanz eben das Verschwinden des eigentlich Politischen zur Folge hat.

Wenn sich der politische Diskurs nach privaten Intrigen richtet, kann von Transparenz und kritischer Öffentlichkeit keine Rede mehr sein. Die Straßenlaterne, in deren Dämmerlicht der verlorene Brief gefunden wird, wird in Viorica Petrovicis Bühnenbild zum sinnfällig vervielfachten Symbol jener halbweltlichen und antidemokratischen Grauzone, die von Caragiale noch humoristisch bewältigt werden konnte. Wenn am Ende die Laterne über dem gesamten Bühnenraum hin und her schwingt, wirkt sie wie ein noch mahnendes Uhrpendel oder wie ein bereits im Fall befindliches Damoklesschwert.

Die herausragende Qualität der Komposition, das kongeniale Libretto und die exzellente Regie, das gelungene Bühnenbild und die abwechslungsreiche szenische Choreografie fanden am Premierenabend ihre ebenbürtige Entsprechung in den sängerischen Leistungen des Chores (Einstudierung: Daniel Jinga) und aller Solisten, von denen unter den männlichen besonders Andrei Lazăr (Caţavencu), Ştefan Popov (Tipătescu) und Florin Diaconescu (Trahanache) herausragten, und nicht zuletzt auch in den instrumentalen Leistungen des von Tiberiu Soare präzise und engagiert geleiteten Orchesters.

Die nächste Aufführung von Dan Dedius Meisterwerk findet am 13. Januar 2013 in der Bukarester Nationaloper statt. Es bleibt zu hoffen, dass diese moralisch lehrhafte musikalische Komödie noch lange und von möglichst vielen gesehen, gehört und erlebt werden kann.