„Carmen“ – ein rumänischer Film mal anders

Doru Niţescu hat einen starken und dramatischen Film geschaffen

Rodica Lazăr in „Carmen“

Am 23. Mai feierte der Spielfilm „Carmen“ in der Regie von Doru Niţescu die Gala-Premiere im Bukarester Kino „Studio“. Der Film wurde bereits 2013 beim Filmfestival in Sarajevo und 2014 bei den Filmfestivals in Göteborg, Peking und Würzburg vorgeführt.

Der Debüt-Spielfilm basiert auf einer wahren Begebenheit aus den 80er Jahren. Ein Manuskript – das Tagebuch einer Mutter, deren kranke Tochter gestorben ist – dient ebenfalls als Inspirationsquelle für die Drehbuchautoren Tudor Voican und Cătălin Cocriş.
Voican und Niţescu haben das Drehbuch für den Film zusammen geschrieben. Nach einigen Varianten haben sie gemeinsam entschieden, die Handlung in unsere Zeit zu versetzen, um keine sozialen und politischen Anspielungen in den Vordergrund zu bringen.

Niţescu hatte bereits während der Arbeit am Drehbuch an Rodica Lazăr in der Hauptrolle von Mariana gedacht. Die beiden waren Kommilitonen im selben Jahrgang an der Filmhochschule (UNATC) – er in der Regieklasse und sie in der Schauspielabteilung. Er wollte ihr aber nichts verraten und lud sie zu einem Casting mit Kindern ein, wo sie ihm helfen sollte. Nach einigen Tagen erfuhr sie schließlich zu ihrer Überraschung, dass sie von Anfang an für die Hauptrolle bestimmt war.

Doru Niţescu hat des Öfteren Krankenhäuser besucht, um für seinen Film zu recherchieren. Was er dort sah, beeindruckte ihn zutiefst: kranke Kinder, denen man die Krankheit gar nicht ansehen konnte – samt trauernden Familien – und natürlich der wohlbekannte Zustand der rumänischen Krankenhäuser und das marode Gesundheitswesen. Dabei erwähnt er Cristi Puius Film „Moartea domnului Lăzărescu“ (Der Tod des Herrn Lăzărescu), der ebenfalls in rumänischen Krankenhäusern spielt und der für das rumänische Kino nach der Wende bahnbrechend ist. Die Themenwahl schien deswegen riskant zu sein, jedoch distanziert sich „Carmen“ weitgehend vom anderen Film durch die verschiedenartige Regie und Stilistik.

Beide Filme zeichnen sich durch eine realistische Darstellung der Geschehnisse aus, jedoch lässt Niţescu den Zuschauer Marianas Drama durch Nahaufnahmen nachvollziehen. Ein quälendes Warten und Hoffen auf ein positives Urteil wird von Rodica Lazăr, die im Film nur ein einziges Mal weint, und zwar  aus  Erleichterung, hervorragend dargestellt. Niţescu ist der Meinung, dass Tränen überflüssig gewesen wären und aus dem Film ein Melodrama gemacht hätten, denn die Thematik ist hart genug.

Eine Mutter erfährt, dass ihr bereits vor Kurzem operiertes Kind erneut krank geworden ist. Der einzige, der Hoffnung auf Besserung durch eine neue Operation hegt, ist Dr. Sitaru (Adrian Titieni). Die Oberärztin Dr. Janos, gespielt von Maia Morgenstern, erweist sich als beinahe unmenschliche und unbarmherzige Person, die selbst mit Mariana schroff spricht und sie unwirsch abfertigt, indem sie jedwede Untersuchung, geschweige denn eine neue OP, ablehnt. Ihr Argument ist, man solle das Kind nicht unnötig quälen, es gebe sowieso keine Chance mehr auf Genesung.

Es ist grausam, wenn eine Mutter so ein Urteil zu hören bekommt. Doch was bleibt einem in solchen Fällen übrig, als alles zu versuchen, was in seiner Macht steht und was überhaupt menschlich ist. Mit diesem Satz rechtfertigt sich mehrmals auch Sitaru, nachdem er Carmen operiert hat.

Carmens Rolle wird von Iulia Lupaşcu ausgezeichnet gespielt. Sie willigt ein, sich den Kopf kahl scheren zu lassen, was darauf hindeutet, dass sie ihre Rolle professionell und bewusst spielt.
In der Besetzung des Films sind auch andere bekannte Namen zu erwähnen: Doru Ana, Mimi Brănescu, Constantin Drăgănescu und Monica Ghiuţă.

Obwohl sich Doru Niţescu für eine realistische Darstellung entschieden hat, fehlen die Symbole nicht. In den ersten Sekunden des Films sind wir Zeugen einer märchenhaften Szene, die aber gleichzeitig ein mulmiges, Trübsal erregendes Gefühl auslöst: Carmen möchte noch nicht schlafen gehen, sie wartet, bis sie ein Auto vorbeifahren sieht. Mariana muss mit ihrer Tochter gemeinsam warten, doch bald kommt auch das lang ersehnte Auto, welches ein magisches Licht- und Schattenspiel an der Wand erzeugt (Bild: Silviu Stavilă). Eine Parallele zu diesem Moment findet im Krankenhaus statt. Dort wird das Auto als vorbeiziehender Schatten an der Wand zur Metapher der Seele, die den Körper bald verlässt.

Auch wenn der Schluss vorauszuahnen ist, hat der Film ein offenes Ende: Im Auto ihrer Taufpaten hält Mariana wie eine leidende Pieta ihr vom Tode gezeichnetes Kind auf dem Schoß. Das Auto hält vor einer Schranke an, man hört den vorbeifahrenden Zug, der nie zu enden scheint, als ob das ausweglose Finale noch ein wenig hinausgeschoben werden könnte.

Den Minimalismus erkennt man auch in der Musikwahl (Komponist: Cristian Lolea). Klavierakkorde unterstützen die Momente, in denen Mariana alleine ist und spiegeln ihre Gedanken wider.
„Carmen“ ist auf keinen Fall der typische Sonntags-Familienfilm, bei dem man Popcorn isst, Cola trinkt und sich amüsiert, danach aber wieder zu seinen eigenen Problemen zurückkehrt und den Film komplett aus dem Gedächtnis löscht. „Carmen“ ist ein unglaublich starker und dramatischer Film, gerade deswegen ist er unbedingt sehenswert. Natürlich wird solch ein Schicksal niemandem gewünscht, umso weniger einer Mutter, dennoch kann man dank der wunderbaren Regie und der Kunst der Schauspieler Marianas Drama völlig nachempfinden. Und dieses Gefühl der Erschütterung bleibt noch viele Stunden nach dem Verlassen des Kinosaals präsent...