Christian Morgenstern, der Visionär

Beim Lesen von Aphorismen und Sprüchen des Palmström-Erfinders notiert

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr wann genau ich in einem rumänischen Antiquariat eine zwischenkriegszeitliche Ausgabe von Christian Morgensterns Gedichten erstanden habe, nämlich „Alle Galgenlieder“, erschienen 1933 im Bruno Cassirer Verlag. Es war jedenfalls spätestens Anfang der 1990er-Jahre – da konnte man in den hiesigen Antiquariaten noch manches Schnäppchen finden.

Am 5. Mai 1998 kaufte ich aus einem Tübinger Antiquariat für 5 Mark den bei Piper 1986 in dritter Auflage erschienenen Band „Stufen und andere Aphorismen und Sprüche“.

Im März dieses Jahres schließlich kam ich dazu, dieses Buch dann auch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen – und einen anderen Morgenstern zu entdecken, den ich persönlich bloß als irgendwie skurrilen Dichter kannte, als den Erfinder von Palmström, des Mondkalbs und anderer abartiger poetischer Personen und Wesen, wobei es stets zwei Texte waren, die mein Morgenstern-Bild geprägt haben: das konkrete Gedicht „Die Trichter“ sowie eine der leichtfüßig-humorvollsten poetischen Schöpfung, nämlich „Das æsthetische Wiesel“. Morgenstern selber sah sich übrigens bloß als einen „Gelegenheitsdichter und nichts weiter“ (Tagebuch eines Mystikers)!

Christian Morgenstern wurde im Jahre 1871 in München geboren und ich möchte des zu früh verstorbenen Dichters (er starb bereits 1914) als eines visionären Geistes gedenken, als der er sich in dem Band „Stufen“ erweist.

Denn jenseits all seiner mystischen oder mystisch angehauchten Aufzeichnungen und Überlegungen (denen ich hier wenig Beachtung schenken werde) überraschte mich gerade dieser mystischen Neigung wegen Morgensterns oftmals äußerst vorausschauendes Denken in Sachen Mensch und Gesellschaft.

Bitte schön, eine der wenigen Überlegungen, in der Morgenstern Technik überraschend, aber einleuchtend mit der Mystik, der Religion verbindet: „Die Entwicklung der Fahrzeuge verfolgt langsam denselben Weg wie die religiöse Entwicklung. Der Vorspann verschwindet, die bewegende Kraft wird ins Innere selbst verlegt.“ (1905)

Und eine hintergründig-witzige Aufzeichnung aus dem gleichen Jahr: „Es müsste Anekdotenerzähler geben, die durch die Krankenhäuser gingen. Eine gute Anekdote ist ein wahres Lebenselixier. Ich glaube, ein Sterbender müsste noch lächeln, wenn er von dem französischen Landedelmann hörte, der sich nicht genug wundern konnte, als er erfuhr, dass er sein Leben lang Prosa gesprochen hätte.“ Wenn das keine ultramoderne Therapieerkenntnis ist, die mich an den späteren Mircea Eliade mit seiner afrikanischen Erzählanekdote und an Radu M²rculescus Kapitel „Die Therapie der Fiktion“ aus dem Erinnerungsband „Leid und Offenabrung in der sowjetischen Gefangenschaft“ (C&N Verlag Berlin, 2008) denken lässt!

Und gleich im Anschluss daran, was lese ich? „Der Russe hat mehr die Liebe zum Leben, wie es ist, der Deutsche (…) mehr die zum Leben, wie es sein sollte, könnte, müsste.“

Im gleichen Jahr 1905 notierte Morgenstern: „Die sozialistische Lehre – das Brot der Armen.“ Und, aufgepasst: „Im Staat der Sozialisten wird einer auf den anderen aufpassen. Und Faulenzer werden nicht geduldet, dulden sich selber nicht. Wer aber will vorher wissen, wer ein Faulenzer und wer ein – Schwangerer ist? Man würde den Schwangeren samt dem Faulenzer verurteilen und damit das Beste der Erde: das stille, langsame Reifen neuer Gedanken.“ Wie vorausgesehen, so geschehen…

Es ist kaum das Jahr 1905 um, als Morgenstern dann notiert: „Ich habe eine furchtbare Vision: Wenn die Sozialisten zur Herrschaft gekommen sein werden, dann fängt das Blut erst an zu fließen.“ Wie vorausgesehen, so geschehen zum zweiten Mal!

Sieben Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Lehrer-Komödie: Die Armut der Lehrer, während die Staaten Unsummen für die Wehrmacht hinauswerfen. Da sie nur Lehrer für 600 Mark sich leisten können, bleiben die Völker so dumm, dass sie sich Kriege für 60 Milliarden leisten müssen.“
Morgenstern der Grüne: „Bemerke, wie die Tiere das Gras abrupfen. So groß ihre Mäuler auch sein mögen, sie tun der Pflanze selbst nie etwas zuleide, entwurzeln sie niemals. So handle auch der starke Mensch gegen alles, was Natur heißt, sein eigenes Geschlecht voran. Er verstehe die Kunst, vom Leben zu nehmen, ohne ihm zu schaden.“ (1909)

Nun ein Finger auf eine Zeitgeistwunde, die heute „aktiver“ ist denn je: „Alles Flatternde und Flackernde in mir überwinden. An jeden guten Gedanken, jede gute Empfindung einen Stein hängen, sie verankern. Damit zusammenhängend: Sesshaft werden, Tempobändigung, Tempobeherrschung.“ (1909)

Feinste Erkenntnis eines Grundzuges der Deutschen: „Wir Deutsche leiden alle an der Hypochondrie der ‘Verpflichtungen’. Sie macht unsere Stärke und unsere Schwäche.“ (1910)

„Was das Fazit der europäischen Rüstungen sein wird? Der möglichst vollkommene déluge après nous.“ (1910) Ja, ja, nach uns die Sintflut!