Cyberpunk als Kassandra-Syndrom

Lachend und feiernd Richtung Dystopie

In dem neuen Videospiel „Cyberpunk 2077“ wird die Welt aus Mike Pondsmiths gleichnamiges Brettspiel Realität. Foto: CD Projekt RED

Blade Runner 2049 ist die von Dennis Villeneuve gedrehte Fortsetzung zu dem ersten Cyberpunk-Film „Blade Runner“ Foto: Warner Bros

Die Bücher, mit denen es anfing: Der US-amerikanische Autor William Gibson veröffentlicht 1984 den ersten von drei Romanen, die zusammen als die „Neuromancer-Trilogie“ das Cyberpunk-Genre definierten. Foto: Heyne Verlag

„Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war“ – so leitete 1984 der Science-Fiction Autor William Gibson seine weltberühmte „Neuromancer-Trilogie“ ein. Mit seinen Romanen sowie parallel dazu erscheinenden Filmen wie Ridley Scotts „Blade Runner“ wurde ein neues Genre aus der Taufe gehoben: der Cyberpunk.

Künstler träumen selten von utopischen Zukunftsvisionen, in denen die Menschheit aus ihren Fehlern gelernt hat und ihren Errungenschaften für das Wohl aller einsetzen will. In den düsteren Welten des Cyberpunk-Genres spielt der gemeine Bürger die zweite Geige. Menschen gehen in überfüllten Metropolen zugrunde. Staaten werden von Großkonzernen kontrolliert, die Monopolmacht genießen, und die Hochtechnologie dient entweder zur Kontrolle, zur Überwachung oder zur Entmenschlichung der Bürger. Es ist keine Welt, in der man wirklich leben möchte. Und doch hat das Genre und die darin beheimateten Werke bis heute eine treue Anhängerschaft gefunden, die Generationen umspannt: Seit den 1980er Jahren ist Cyberpunk eines der beliebtesten Subgenres der modernen Science-Fiction. Seine Hochzeit genoss das Genre in den 1990er Jahren. Es kulminierte unter anderem mit dem erfolgreichen Blockbuster-Film „The Matrix“. Davor sorgte ein japanischer Animationsfilm namens „Ghost in the Shell“ für Furore und noch davor, ebenfalls aus Japan und ebenfalls Animation, Katsuhiro Otomos Manga-Verfilmung „Akira“.

Brettspiele und Romane

In dieser Zeit spielten eine Handvoll Jugendlicher, oft Jungs, das Pen-&-Paper-Rollenspiel „Cyberpunk“. Das Rollenspiel vom Autor Mike Pondsmith erschien 1988 auf Englisch und 1992 auf Deutsch. In Pondsmiths Brettspiel wurde eine futuristische, von Technologie und Computern dominierte Dystopie, ganz analog, ohne Computer und zum Großteil in der eigenen Fantasie, nachgespielt. Anhand von Handbüchern können Spieler ihre eigenen Abenteuer entwickeln und zu ihren Lieblingscharakteren werden.

Noch vor dem Internet träumte Gibson von einem virtuellen Raum, den er „Cyberspace„ nannte. Die Vorreiter von Hackern, die sich im Cyberspace einloggen, um Geschäftsgeheimnisse oder Informationen aller Art zu beschaffen, nannte Gibson Konsolen-Cowboys. Andere Charaktere zeichneten sich durch Technologieimplantate aus, die sie in Cyborgs verwandelt. Vorbild für die futuristischen Städte aus seinen Romanen war Tokyo. Japans Hauptstadt sah bereits Anfang der 1980er Jahre wie aus einer Science-Fiction-Geschichte aus. Mit Neonschildern und von Menschenmassen überfluteten Straßen, unkonventionellen modernen Gebäuden, unter anderem im japanischen Architekturstil „Metabolismus“ gebaut. Daneben Überbleibsel eines traditionelleren Japans, das neben den futuristischen Elementen der Neustadt koexistiert.

Charaktere sind oft zwielichtige, selbstsüchtige Einzelgänger, die von Tag zu Tag leben. Oft sind es Söldner, die für Geld alles machen und in großen Verschwörungen verwickelt werden. Was harmlos anfängt, entpuppt sich schnell als eine große Konspiration mit weltübergreifenden Auswirkungen. Politiker sind korrupt und machtlos, aufgekauft von den Großkonzernen, die die eigentlichen Herrscher sind. Cyberpunk ist eine andere Form von Kapitalismus-Kritik: Es verherrlicht das, was es kritisiert. Die überfüllten Metropolen sind sowohl abweisend als auch anziehend. Die Charaktere oft abstoßend, aber auch, weil man es nicht besser beschreiben kann, „cool“.

Das Schlüsselwort eines Genres

Denn das Wort „cool“ fällt oft. Auch innerhalb der Cyberpunk-Welt, unabhängig vom Autor. Selbst in Pondsmiths Brettspiel Cyberpunk gehört „Coolness“ zu den Eigenschaften, die sich Spieler auswählen müssen. Die typischen Rollenspiel-Eigenschaften sind „Intelligenz“, „Kraft“, „Geschicklichkeit“, usw. Diese Eigenschaften bestimmen den Erfolg des Spielers, während er seinen Charakter durch das fiktive Spielszenario leitet.

Cyberpunk thematisiert Oberflächlichkeit. Die Grenze zwischen Kritik und Verherrlichung ist allerdings schmal. Es ist selbstreferenziell. Es driftet oft ins Parodistische ab. Ein bekanntes Beispiel ist Paul Verhoevens „RoboCop“: Die übertriebene Gewaltdarstellung schockiert zuerst, löst dann aber einen gegensätzlichen Effekt aus. Der gesamte Film wird zur Parodie und nimmt sich selber nicht ernst. Verhoeven gesteht sich und seinem Film ein, dass es ein Unterhaltungsprodukt ist, welches die zunehmenden Ansprüche des Publikums befriedigen möchte, und dieses fordert mehr Gewalt und mehr Sex. Konsum eben – ein Fass ohne Boden, wo der Aufschrei nach mehr letztendlich zu einer Verwässerung von Werten führt.

Werke des Cyberpunk-Genres könnte man also als die jüngeren Brüder von Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ betrachten: Er macht den gleichen Unfug, setzt aber immer einen drauf und überrascht mit seiner bodenlosen Maßlosigkeit. Huxleys Dystopie wirkt geradezu utopisch im Vergleich zu den Cyberpunk-Welten. Sie spiegeln fast drei Jahrzehnte wieder und sind in ihrer Einschätzung einer gescheiterten, allein von Kapitalismus geprägten Gesellschaft akkurater. Schließlich sind wir vom Cyberpunk nicht allzu weit entfernt. Aus dem Cyberspace ist das Internet geworden, Tech-Konzerne wie Amazon, Google oder Facebook versuchen durch Technologie unser Leben zu beeinflussen. Unsere privaten Informationen werden als Produkte gehandelt. Und der Endzweck: Konsum und Profit.
Währenddessen versuchen Millionen Menschen Likes zu sammeln und werden im Prozess süchtig. Die Droge heißt nicht mehr Heroin, sondern Facebook. Man möchte gesehen, gehört und validiert werden. Dafür verzerrt man die Realität und schafft eine digitale Persona. Man sieht am Ende nur noch den Regenbogen und kaum noch den Regen davor und danach. Ironischerweise führt das zu einer Vereinsamung, statt, wie ursprünglich gepriesen, zu einer neuen Form von Gemeinschaftlichkeit.

Cyberpunk schon heute

Cyberpunk ist also hier. Zwar ohne Trenchcoats, schwebenden Autos, Technologieimplantaten (wobei teilweise auch schon), aber das Grundgerüst steht bereits. Hinter der alltäglichen Fassade werden bereits seit Jahrzehnten die Grundpfeiler gelegt, für eine Zukunft, die dem Cyberpunk erschreckend ähnelt. Schließlich hat Gibson 1984 das Internet vorhergesagt. Das Spiel Deus Ex 2000 den Terroranschlag auf das World Trade Center. Der Animationsfilm „Ghost in the Shell“ die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, und selbst der Blockbuster-Film „RoboCop“ die Wirtschaftskrise in Detroit.

Doch gleichzeitig bleibt das Cyberpunk-Genre in erster Linie ein Unterhaltungsgenre. Das Wort „cool“ ist viel zu prominent, als dass man es ernst nehmen könnte. Was man von außen sieht, ist eben der Matrix-Look: Coole Sonnenbrille, ein langer Trenchcoat und in Zeitlupe durch die Gegend schweben. Doch die subtilen Warnzeichen in all diesen Werken kann man kaum übersehen. Unsere Freiheit wird man uns nicht mehr nehmen, wir werden sie Stück für Stück verkaufen. Für Unterhaltung, für einen Augenblick im Rampenlicht, für eine Handvoll Likes, bis wir zum Himmel aufschauen werden und er die Farbe eines Fernsehers hat, der auf einen toten Kanal geschaltet ist.