Das zerfetzte Paradies

Die Tsunami-Katastrophe des Jahres 2004 als Desaster-Film

Bei der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean, die nach einem starken Seebeben am Zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004 über Indonesien, Sri Lanka, Thailand, Indien und viele andere Anrainerstaaten dieser Meeresregion hereinbrach, kam fast eine Viertelmillion Menschen zu Tode, Zehntausende wurden verletzt, mehr als anderthalb Millionen Bewohner der Küsten des Indischen Ozeans wurden obdachlos.

Nicht nur wegen der großen Zahl der Opfer – das Unterwasserbeben zählt zu den zehn schlimmsten Erdbeben der Menschheitsgeschichte – rückte diese Flutkatastrophe ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, sondern vor allem auch deswegen, weil zahlreiche Touristen aus der westlichen Hemisphäre von diesem schrecklichen Naturereignis betroffen waren: Allein in den Urlaubsregionen an den Küsten Thailands kamen über zweieinhalb Tausend europäische Urlauber ums Leben.

Für einen Regisseur, der diese Naturkatastrophe auf Zelluloid bannen möchte, stellen sich, noch bevor er sich Problemen der filmtechnischen Umsetzung der gewaltigen Flutwellen zuwenden mag, zahlreiche Fragen moralisch heikler Natur, die ein solches Filmprojekt grundsätzlich in Zweifel zu ziehen in der Lage sind. Ist es ethisch vertretbar, aus dem Leiden zahlloser Menschen ästhetisches Kapital zu schlagen und finanziellen Gewinn zu ziehen? Kann man dem Schmerz aller von dieser Katastrophe in Mitleidenschaft Gezogener überhaupt gerecht werden, wenn man sich, wie in der Gattung des Desaster-Films üblich, lediglich auf das Schicksal einiger weniger Betroffener konzentriert? Ist die Fokussierung auf eine europäische Familie, die der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona in seinem Film „Lo imposible“ (Das Unmögliche) vorgenommen hat, angesichts der großen Zahl der Opfer unter der thailändischen Zivilbevölkerung überhaupt statthaft? Ist eine derartige Happy-End-Geschichte, die die glückliche Errettung einer fünfköpfigen Familie feiert, nicht ein Schlag ins Gesicht all  derjenigen, die bei diesem furchtbaren Tsunami Angehörige verloren haben oder anderweitig traumatisiert wurden?

Der Regisseur des Films, der in Deutschland unter dem englischen Titel „The Impossible“ und in Rumänien unter dem Titel „Paradisul spulberat“ (Das zerstörte Paradies) gezeigt wird, konnte und wollte solcherlei Bedenken nicht zerstreuen, hatte aber ein starkes Argument für die Durchführung des Filmprojekts auf seiner Seite: Die Geschichte vom wunderbaren Überleben eines Ehepaars mit seinen drei Söhnen ist eine wahre Geschichte, die von der geretteten Ehefrau, der Ärztin María Belón, aufgezeichnet worden war und von Sergio G. Sánchez in ein mitreißendes Skript gegossen wurde, das freilich die Herkunft der Familie in den englischsprachigen Raum verlegt und die Namen der beiden Erwachsenen sowie ihrer drei Kinder aus dem Spanischen ins Englische übersetzt.

Der Film „The Impossible“ spielt zwar in den ersten Minuten mit den genrespezifischen Elementen des Desaster-Films. So hält beispielsweise ganz zu Beginn die Kamera mit einer Totale über dem Meer in langsamer Fahrt auf die Küste zu. Plötzlich wird die ruhige Einstellung durch ohrenbetäubenden Lärm unterbrochen. Ein Düsenjet schießt ins Bild und zieht, wie eine Präfiguration des Tsunami, der kommen soll, den Blick den Betrachters sogleich in den Fokus der nahenden Katastrophe. Oder es tritt anfangs, um ein anderes Beispiel für das Handlungsmuster des Desaster-Films zu nennen, die heile Welt der Familie (Ferien im Urlauberparadies, weihnachtliche Bescherung, Glück und Harmonie), unterstützt von der grandiosen Musik Fernando Velázquez’, in charakteristischen Gegensatz zur drohenden Katastrophe, die mit den furchtbaren Geräuschen krachender Palmstämme, berstender Bungalows und tosender Wassermassen über die Ahnungslosen lautstark hereinbricht.

Doch mit dem Eintritt der Katastrophe verlässt der Film das übliche Schema des typischen Desaster-Films und wird zu einem existenziellen Melodram, das in rasanter und kaum zu verkraftender Folge menschliche Ursituationen und existenzielle Grunderfahrungen auf die Leinwand bringt: Geburt und Tod, Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Hoffnung und Verzweiflung, Suchen und Finden, Freude und Trauer jagen, ja hetzen einander in schnellem Wechsel und werden durch die Kraft der Bilder nur für Momente stillgestellt.

Wunderbar die Szene, wie ein alter bärtiger Thai die schwer verletzte Maria durch das vom Tsunami in einen Sumpf verwandelte Hinterland der Küste zieht! Man sieht nur zwei schwankende Gesichter: von unten das des dunkelhäutigen Retters, von oben das der hellhäutigen, völlig entkräfteten Mutter, bisweilen überhuscht von den Strahlen der am wolkenlosen Himmel stehenden Sonne. Wunderbar auch die Szene, wie die Mutter und ihr ältester Sohn Lucas einen fremden Jungen retten, ihn auf einem Baum in Sicherheit bringen und wie Lucas dann, selbst fast noch ein Kind, unter Aufbietung aller Kräfte seine Mutter auf den rettenden Baum hievt!

Überhaupt sind die schauspielerischen Leistungen in diesem Film zu bewundern, allen voran diejenige von Naomi Watts als Maria. Wie sie mit ihrem geschundenen Körper nicht nur physisches Leiden, sondern auch psychischen Schmerz zum Ausdruck bringt, wie sie Todesangst in Lebensfreude kippen lassen, Lachen in Weinen, Trauer in Glück verwandeln kann, verdient volle Bewunderung. Auch der sechzehnjährige Debütant Tom Holland besticht durch seine Verkörperung des Jugendlichen Lucas, den er zwischen revoltierendem Teenager, hilflosem Kind und künftigem erwachsenen Mann genial changieren lässt.

Ebenso sind die beiden jüngeren Brüder Thomas und Simon, die sich mit dem gleichfalls geretteten Vater Henry (Ewan McGregor) nach den anderen Mitgliedern der auseinander gerissenen Familie auf die Suche machen, mit Samuel Joslin und Oaklee Pendergast hervorragend besetzt. Und Geraldine Chaplin hat einen kurzen Cameo-Auftritt als alte Frau, die angesichts der hereingebrochenen Katastrophe nächtens über das wundersame Strahlen bereits erloschener Sterne philosophiert.

Von größter Eindringlichkeit sind die Bilder (Kamera: Óscar Faura), die der Handlung zusätzlich existenzialistische Metaphorik verleihen. Wie die Anästhesierung der todkranken Maria in ein erneutes Durchleben des höchst lebensecht inszenierten Tsunami mündet, wie ihr Auftauchen aus dem Leichengewässer zu einer Geburtsszene stilisiert wird, wie verletzte Touristen filmisch in das Rollenschema von Zombies gerückt werden, wie wehrlose Körper in tödlichen Strudeln taumeln, wie Henry auf der Suche nach Frau und Sohn über die ‚Killing Fields’ des Küstensaums von Khao Lak schreitet, das rührt, bewegt, schmerzt und ruft zugleich immer wieder die Frage nach der Legitimität der Ästhetisierung von menschlichem Leiden wach.