Der Briefwechsel zwischen Nelly Sachs und Paul Celan

Zum 50. Todestag der beiden jüdischen Dichter deutscher Sprache

Vor fünfzig Jahren, am 12. Mai 1970, wurde der am 23. November 1920 im damals rumänischen Czernowitz geborene Dichter Paul Celan auf dem Pariser Friedhof Thiais beigesetzt, nachdem er um den 20. April den Freitod in der Seine gesucht hatte. Am selben Tag vor fünfzig Jahren, am 12. Mai 1970, starb in Stockholm die Lyrikerin und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs, die am 10. Dezember 1891 in Berlin-Schöneberg geboren worden war und am 16. Mai 1940 mit einer der letzten Passagiermaschinen vom Flughafen Berlin-Tempelhof gemeinsam mit ihrer Mutter aus Nazideutschland nach Schweden fliehen konnte, nachdem sie am Morgen jenes Tages gleichzeitig das schwedische Visum und den Gestellungsbefehl zum Abtransport nach Auschwitz erhalten hatte.

Beide Dichter, Paul Celan und Nelly Sachs, entkamen dem Holocaust, gleichwohl litten sie beide zeitlebens an den Schrecknissen der Shoah, von denen etwa Celans Poem „Todesfuge“ oder Nelly Sachs’ Gedichtband „In den Wohnungen des Todes“ Zeugnis geben, die beide im selben Jahr, 1947, erstmals erschienen. Die psychische Erkrankung beider jüdischer Dichter deutscher Sprache ist wohl auch in diesem historischen Kontext der Judenvernichtung zu verstehen. Nicht von ungefähr schrieb Nelly Sachs, die Hans Magnus Enzensberger einmal als „die letzte Dichterin des Judentums in deutscher Sprache“ bezeichnet hatte, an den um vieles jüngeren Paul Celan am 28. Oktober 1959 aus Stockholm nach Paris: „Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes.“

Beide, Nelly Sachs und Paul Celan, verband eine enge Freundschaft, von der nicht zuletzt der umfangreiche Briefwechsel der beiden Lyriker zeugt, der ganze fünfzehn Lebensjahre, die Zeit zwischen 1954 und 1969, umspannt. Die Celan-Forscherin Barbara Wiedemann hat diesen Briefwechsel 1993 im Suhrkamp Verlag vollständig veröffentlicht und ausführlich kommentiert.

Zunächst geht es in diesem Briefwechsel zwischen dem „lieben Dichter Paul Celan“ und der „sehr verehrten gnädigen Frau“ um die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung ihres jeweils im Werden befindlichen lyrischen Werkes, schon bald aber auch, und nun persönlicher und intimer im Dialog der „geliebten Freunde“, um zentrale Themen ihres Lebens und ihrer Dichtung, so etwa um die jüdische Mystik. Am 9. Januar 1958 schreibt Nelly Sachs an Paul Celan: „Es gibt und gab und ist mit jedem Atemzug in mir der Glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit wozu wir angetreten.“ Und am 3. September 1959 bedankt sich Nelly Sachs für Paul Celans neuen Gedichtband „Sprachgitter“, indem sie ihn mit dem „Buch der Strahlen“, dem Buch Sohar, vergleicht, einem der bedeutendsten Schriftwerke der Kabbala, der mystischen Geheimlehre des Judentums. Chassidismus und Lurianismus, Martin Buber und Gershom Scholem sind wichtige Bezugspunkte zweier lyrischer Oeuvres, für die Mystik in erster Linie Sprachmystik war. Im Rückgriff auf die Lehre Isaak Lurias vom „Zimzum“ spricht Nelly Sachs in diesem Brief vom „Gott im Exil“, der sich, wie die beiden Schriftsteller Sachs und Celan in deren Exil in Stockholm und Paris, in sich zurückzog, „um aus seinem Inneren Welt zu schaffen“.

Ein weiteres Thema des Briefwechsels zwischen Nelly Sachs und Paul Celan ist die Zeit des Nationalsozialismus, jene Jahre „im von Verrat starrenden Deutschland“, außerdem der Antisemitismus der Nachkriegszeit und die damit verbundenen persönlichen Enttäuschungen. Auf Paul Celans Klagen über einen antisemitischen Literaturkritiker jener Zeit antwortet Nelly Sachs am 28. Oktober 1959: „Eine Hoffnung, in die ich jahrelang meine innigste Kraft gesammelt hatte, ging damals in Scherben – ich wurde krank, so traf es mich. Lieber Paul Celan, wir wollen uns weiter einander die Wahrheit hinüberreichen.“

Auch die Übersetzertätigkeit der beiden Dichter ist Gegenstand ihres Briefwechsels. Am 11. November 1959 lobt Nelly Sachs die kurz zuvor erschienene Übertragung von Gedichten Ossip Mandelstamms durch Paul Celan in den höchsten Tönen: „Wie haben Sie ihn (Mandelstamm) aus der Nacht gehoben mit seiner ganzen Sprachlandschaft, noch feucht und tropfend von der Quelle. Herrliches Ereignis. Herüberwandlung und wieder neues Gedicht. Dies ist höchste Übertragungskunst.“ Im selben Brief kündigt die Dichterin das baldige Erscheinen von Übersetzungen an, die sie ihrerseits angefertigt hatte und im Rahmen einer Anthologie moderner schwedischer Lyrik zur Publikation vorbereitete.

Auch eigene Gedichte werden von den beiden Lyrikern auf den Postweg zwischen Paris und Stockholm gebracht, so etwa das Gedicht „Chor der Waisen“ von Nelly Sachs, in dem die Verse stehen: „Wir Waisen wir klagen der Welt: / Welt warum hast du uns die weichen Mütter genommen / Und die Väter, die sagen: Mein Kind du gleichst mir! / Wir Waisen gleichen niemand mehr auf der Welt! / O Welt! / Wir klagen dich an!“ Und der Pariser Brief Paul Celans vom 30. Mai 1960 besteht ausschließlich aus einem einzigen Gedicht mit dem Titel „Zürich, Zum Storchen“, das Paul Celan Nelly Sachs widmete und das er später in seinen Lyrikband „Die Niemandsrose“ (1963) aufgenommen hat.

In diesem Gedicht, das auf die erste persönliche und leibhaftige Begegnung der beiden Dichter in Zürich und auf das dortige Hotel „Zum Storchen“ anspielt, in dem Nelly Sachs während ihres Zürich-Aufenthaltes vom 25. bis 27. Mai 1960 untergebracht war, geht es um den jüdischen Gott, von dem sich Celan in diesem Gedicht ausdrücklich distanziert: „Von deinem Gott war die Rede, ich sprach / gegen ihn, ich / ließ das Herz, das ich hatte, / hoffen: / auf / sein höchstes, umröcheltes, sein / haderndes Wort –“. Intertextuelle Bezüge verweisen hier auf das biblische Buch Hiob und auf dessen Übersetzung durch Luther, auf Margarete Susmans 1946 erschienene Schrift „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ – Celan kannte die in Zürich lebende Publizistin gut und besuchte sie dort mehrfach –, auf René Char, auf Celans eigene Lyrik sowie auf Nelly Sachs’ mündliche Äußerungen während dieser denkwürdigen Zürcher Begegnung am Himmelfahrtstag des Jahres 1960.

Nach dem Gegenbesuch von Nelly Sachs vom 13. bis 17. Juni 1960 beim Ehepaar Celan und Sohn Eric in Paris gewinnt der Briefwechsel zwischen „meiner lieben guten Nelly“ und „Paul Gisèle Eric“ noch mehr an Herzlichkeit, wird aber auch überschattet von der psychischen Erkrankung der Dichterin („es ist ein dunkles Netz um mich gezogen“), die am 8. August 1960 in die Psychiatrie eingeliefert wird und Paul Celan bei dessen Besuch in Stockholm Anfang September nicht empfangen will und ihn womöglich gar nicht erkennt.

Erinnerungen an die je eigene Jugend der beiden Dichter halten Einzug in ihren Briefwechsel: an die Mutter, an den Ort ihrer Kindheit. „Bei uns in Czernowitz“, so Paul Celan am 4. Mai 1961, „pflegten die Juden, wenn sie einander Auf Wiedersehen sagten, dies zu wünschen: Sei gesund! Das ist keine deutsche Wendung, es ist eine jiddische, und so lass es mich jetzt noch einmal sagen, auf jiddisch und mit hebräischen Buchstaben.“

Immer wieder hebt Nelly Sachs die Freude hervor, die ihr der Anblick von Celans Handschrift bereitet: einer Handschrift, in der „die Buchstaben leuchten“, und die ihr, wie nur noch eine zweite Handschrift auf der Welt, Glück bedeutet. Die andere Handschrift gehörte Nelly Sachs’ Freundin Gudrun Harlan (spätere Dähnert), der es auf einer Reise nach Schweden im Sommer 1939 gelungen war, von Selma Lagerlöf ein Empfehlungsschreiben für die Erwirkung desjenigen schwedischen Visums zu erhalten, welches Nelly Sachs und ihrer Mutter Margarete im Jahr darauf das Leben rettete.

Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit, Krankheit, Verfolgung, Flucht und Rettung sind weitere Themen dieses Briefwechsels, in dem immer wieder Celans Zürich-Gedicht als gemeinsames Schibboleth, als geheimer Code, verwendet wird, um einander der gegenseitigen Freundschaft zu versichern und der Heimat in ihr, wie in jenen zwei Versen von Nelly Sachs, die sie bei der Entgegennahme des Literaturnobelpreises am 10. Dezember 1966, ihrem 75. Geburtstag, in Stockholm zitierte:  „An Stelle von Heimat / Halte ich die Verwandlungen der Welt.“