Der Einbeinige und das Kind

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Krücke“, Peter Härtling, Gulliver Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/ Pavilion, www.goethe.de/bukarest

Dichtes Gedränge am Bahnhof von Kolin in Böhmen, heutiges Polen. Und auf einmal ist Tom allein. Unversehens hat der Neunjährige die Hand der Mutter losgelassen. Und die Menschenmenge, die sie fast zu zertrampeln drohte, als der Zug einfuhr, hatte sie auseinandergerissen. Weg war sie, nirgendwo zu entdecken. Sollte er jetzt trotzdem einsteigen? Irgendjemand zog ihn in den Waggon hinauf. Doch im Zug keine Spur von der Mutter. Tom hat kein Handy und zur Polizei gehen hilft ihm auch nicht. Denn in den Jahren 1945/46, in denen die Geschichte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spielt, ist das Handy noch nicht erfunden und überall herrscht Chaos. Die Städte nach dem von Adolf Hitler angezettelten Krieg liegen in Trümmern. 

Tom hat eine Adresse, die von seiner Tante Wanda in Wien. „Hellergasse 9, vergiss es nicht!“ hatte ihm die Mutter noch eingeschärft. Doch als er endlich dort ankommt, steht kein Haus mehr an besagter Stelle. Nur ein Türrahmen, in dem eine seltsame, wirre alte Frau hockt, dahinter ein riesiger Schuttberg. Wenigstens nennt sie ihm einen Keller, in dem er schlafen kann und eine warme Suppe bekommt. Ein Kind allein unter Erwachsenen. Manche haben Mitleid, aber niemand will sich um einen verlorenen Jungen kümmern. Die Menschen haben eigene Probleme. Irgendjemand schiebt ihn auf die Straße. „Hier kannst du nicht bleiben.“ Tom stolpert einfach los, in die Richtung, in die er geschubst wurde. 

Was nun? Wohin? Er geht einfach weiter. 

Vor ihm tritt ein Einbeiniger auf die Straße. Erstaunlich behende hüpft der Mann mit seiner Krücke zwischen den Trümmern hindurch. Tom folgt ihm wie magisch angezogen, ohnehin hat er kein Ziel. Immer weiter, bis die Häuser weniger werden, hinaus aufs freie Feld. Vor dem schäbigen Bauwagen, in dem der Einbeinige verschwindet, bleibt Tom ratlos stehen. Der Mann hat ihn gesehen. Gleich wird er rauskommen und ihn wegschicken. Oder sogar verjagen. Und dann? 

In der Einöde hockt sich Tom auf einen Stein. Er weiß, dass er jetzt keinen Fehler machen darf. Alles hängt von diesem Moment ab!

Zuerst schickt der Mann ihn tatsächlich weg, wer weiß, denkt vielleicht, Tom will ihn bestehlen. Dann fragt er, bist du allein? Tom darf reinkommen, essen, an einem warmen Platz schlafen. Endlich ruhig schlafen! Der Einbeinige geht und kommt. Tom hat Angst ganz alleine. Aber er bleibt nicht alleine. Als andere Schutzsuchende den Bauwagen gewaltsam erobern, nimmt ihn Krücke, so will der Mann genannt werden, wie selbstverständlich mit. Gemeinsam flüchten sie in die Stadt.

Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagt ein Sprichwort. Sein unerbittlicher Feind. Dies gilt vor allem im Krieg, wo jeder ums Überleben kämpft, um ein bisschen Essen, ein spärliches Dach, zu wenig für einen und erst recht für alle. Jeder beäugt jeden mit Argwohn. Für ein Kind, das zu niemandem gehört, eine besonders gefährliche Welt. Sag, ich bin dein Onkel, schärft ihm Krücke ein.

Onkel Krücke ist geschickt im Organisieren. Im Haus von Bronka, wo die beiden zunächst unterkommen, gehen allerlei Leute ein und aus. Geheimnisvoll tun sie alle. Auch Bronka, die Jüdin, Krücke hatte sie gerettet. Einfach so, ohne sich zu fragen, ob ihm das gefährlich werden könnte. Jetzt folgt sie einer Mission, hat ein Lebensziel, bald will sie auswandern nach Israel. Und Krücke zieht es weiter nach Deutschland. 

Doch was wird aus Tom? Jedes Mal beim Roten Kreuz dieselbe Antwort: Von seiner Mutter keine Spur. Krücke ist bereit, ihn mitzunehmen - doch geht das, ohne Papiere? Schon bald fliegt auch die Onkel-Lüge auf. Wieder in Gefahr! 

Was Tom und Krücke trotzdem noch gemeinsam erleben, ist eine lange und spannende Geschichte, die die ungleichen Freunde fest  zusammenschweißt. Doch kann es ein Happy End geben? Denn wenn Tom endlich seine Mutter wiederfindet – was wird dann aus ihm und Krücke?

Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagt das Sprichwort. Doch „Ich habe mein Buch gegen dieses Sprichwort geschrieben“, meint Autor Peter Härtling. Die Geschichte von Krücke und Tom soll beweisen, dass der Mensch auch des Menschen Freund sein kann!

Der gleichnamige Film wurde mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnet. 


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.