Der Engel, er trug eine Krone

Zum zweisprachigen Gedichtband „Beleuchtete Busse in denen keiner saß“ von Dagmar Dusil und Ioana Ieronim

Dagmar Dusil, Ioana Ieronim: „Beleuchtete Busse in denen keiner saß/Si trec autobuze goale“. Gedichte. Scherenschnitte von Gerhild Wächter. Nachwort von Emil Hurezeanu. Pop-Verlag, Ludwigsburg, 2021, 124 Seiten. 19,90 Euro, ISBN 978-3-86356-339-4.

Was geschieht, wenn die Welt in einen Ausnahmezustand tritt? Wie erleben die Menschen die Zeit der Pandemie? Mit diesen Fragen setzen sich die beiden namhaften Dichterinnen, Dagmar Dusil und Ioana Ieronim, in ihrem Gedichtband auseinander. Sie führen einen lyrischen Dialog miteinander in zwei Sprachen, Deutsch und Rumänisch, indem jede die Gedichte der anderen übersetzt.

Dagmar Dusil, geboren in Hermannstadt/Sibiu, wohnhaft in Deutschland, findet in Ioana Ieronim, der Burzenländerin, die in Rumänien und in den USA lebt, die perfekte Gesprächspartnerin, denn beide Autorinnen verfügen über ein außerordentlich feines Gespür für das Bizarre der Situation und über ein wunderbares Reservoir an bildhafter Sprache, um das auszudrücken, was unsere Welt seit dem Frühjahr 2020 in Atem hält.

Trotz des beschriebenen Leids, der Leere, der Kälte und Einsamkeit ist es keine Lyrik der Resignation. Diese Poesie, die zweifelsohne aufrütteln will und den Finger auch schonungslos auf Wunden legt, lässt immer wieder Lichtblicke zu.

Die Scherenschnitte in schwarzweiß von Gerhild Wächter unterstreichen gekonnt das Unheimliche der Lage. Sie erinnern in ihrer oft grotesken Ausstrahlung an die „Caprichos“ von Francisco de Goya, oder wie Emil Hurezeanu in seinem grandios verfassten Nachwort sagt, an Picassos Kriegsbilder. Und wenn der ehemalige Botschafter Rumäniens in Berlin (2015-2021), Politologe und Schriftsteller, Emil Hurezeanu von den beiden Dichterinnen sagt, „Sie wechseln gekonnt und mit höchster Kompetenz Kulturen, Sprachen, Länder“, so hat er vollkommen recht. Hier wurde ein allumfassendes Geschehen in einer globalisierten Welt aus einer globalen Sicht behandelt, die ihre Gemeinsamkeit in der gleichen Heimat findet, die Heimat, die uns Trost spendet, was auch immer geschieht, wo immer wir in der Welt weilen.

Die beiden Dichterinnen befassen sich mit der Pandemie, aber die Themen, welche in den Gedichten angesprochen werden, gehen viel tiefer als das Beschreiben einer Ausnahmesituation. Es werden philosophische Betrachtungen angestellt über Liebe und Einsamkeit, Leben und Tod, Werden und Vergänglichkeit. Die Verse in freier Form bemühen nur die nötigsten Interpunktionszeichen. Eine straffe Interpunktion hätte wohl nicht zu einer chaotischen Welt gepasst.

Im ersten Gedicht „Resümee 2020“ spricht Dagmar Dusil von einer Welt die „aus den Fugen geraten“ ist. Es klingt wie ein Appell an die Menschheit, achtsam mit der Schöpfung umzugehen, wenn sie sagt: „Wir haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt“. Darauf folgt die Antwort von Ioana Ieronim, die aus Washington DC meldet: „durch die klare Luft erreichte uns bald/der Hauch der Toten zu Bergen gehäuft: Zahlen, Zahlen/geologisch steigend.“

Der unsichtbare Feind, das Virus, lauert überall. Die Natur, die lebendig erscheint, lässt Dagmar Dusil in „Trugbild“ sagen: „Der Engel, er trug eine Krone“, ein verstörend schönes Bild, das an den Hungerengel in Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ erinnert. 

Verstörend und unheimlich wirkt die Welt auch, wenn Ioana Ieronim sagt: „So viel Stille… mir scheint als höre ich/wie tektonische Platten im Warten zögern“.

Die Situation ruft Wut hervor, etwa in den Rufen „Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!“ im Gedicht „Stille“ von Ioana Ieronim. Refrainartig wiederholen sich die Verse: „Der Bildschirm wird schwarz,/Schalt`s aus/Start`neu“, die auf den Ernst der Lage aufmerksam machen. Der Stille, die wie Hurezeanu im Nachwort erwähnt, bei Lucian Blaga noch die Ewigkeit des Dorfes symbolisiert, wird hier zu einer unheimlichen Stille, zur gestoppten Zeit. In „Märzmorgen 2020“ sagt Dagmar Dusil :„Die Straßen gepflastert/mit Stillsein“. 

In „Zauberspruch des Jahres 2020“ fragt Ioana Ieronim: „Jahr der Gnade 2020/du hältst uns den Spiegel vor/und was zeigst du uns?“  Geradezu gespenstisch erscheinen im Gedicht „Quarantäne. Bamberg“ von Dagmar Dusil die Busse, die ohne Fahrgäste, ziel- und sinnlos durch stille, menschenleere Straßen fahren.

 „beleuchtete Busse/hinterließen Spuren/in denen keiner saß“. 

Die Antwort von Ioana Ieronim darauf ist „Quarantäne. Washington“. Auch hier fahren leere Busse, aber sie sieht in der trotzigen Aktion eine „Einladung zum künftigen Leben“, obwohl es klar ist, dass nichts mehr so sein wird wie vorher, es ist, als hätten die Menschen wie Peter Schlemihl in Adalbert Chamissos Erzählung ihre Schatten verloren.

Der Titel „Frühlingskalt“ im Gedicht von Dagmar Dusil sagt schon etwas über die Kälte, die nicht nur das Wetter betrifft, die Menschen grummeln hinter Masken, sie sehen aus, als kämen sie aus der Unterwelt. „Euridike begegnet dir bei Tag und Nacht“. 

„Fern doch nicht fern genug“ von Ioana Ieronim spielt auf den Ausgang der Pandemie vom Wildtiermarkt in China an. In einer globalisierten Welt gibt es keine Fernen mehr, wir leben alle zusammen auf einem Planeten. Wir sollten achtsam miteinander und mit unserer Welt umgehen.

Die Seele leidet, wenn menschliche Nähe zur Gefahr wird. In „September 2020“ sagt Dagmar Dusil „Umarmungen suchen sich in Blicken“, und Ioana Ieronim stellt in „Die Geschwindigkeit des Augenblicks“ fest: „Unsere Zeit mit beschleunigter Geschwindigkeit/ lässt uns Tag für Tag zu Fremden werden“.

Was kann man in solch einer Situation tun? Dagmar Dusil sagt im Gedicht „Im Heim“: „Ich habe das Zimmer zum Heim gemacht“. Es ist die Erinnerung an die Siebenbürgische Heimat, an die Gerichte und Lieder von daheim, sie allein macht die Flucht aus der kranken, kalten Welt möglich. „Ich habe die Heimat auf der Zunge gespürt…/Ich habe die Lieder der Heimat gehört“. Doch das Gedenken an den Tod, der allgegenwärtig ist, kann man nicht ganz verdrängen. In „Das Jahrhundert endet nicht“ sagt Ioana Ieronim: „Oh oh wir führten ein süßes Leben von heute auf morgen/doch plötzlich spüren wir jenen Blick/der deinem Blick nicht begegnet und besagt – heute/bezahlst du/mit deinem Leben“. In „Memento mori“ von Dagmar Dusil heißt es: „wir leben im leisen Tod/des Augenblicks“.

In „Birnen im Januar“ macht Ioana Ieronim auf die geschundene Natur durch den Klimawandel aufmerksam. Die Birnen, schön verpackt, tragen die Zeichen des zerstörerischen Windes, der gleiche Wind, der Feuer entfachte und Häuser zerstörte. Doch das Gedicht lässt den Leser nicht in der Katastrophe zurück. Es gibt immer einen Weg, daher der Aufruf: „Möge die Zeit der Erneuerung uns die Augen öffnen“.

Wenn Dagmar Dusil im Gedicht „Im Jahr nach Corona“ die Fortdauer der Pandemie beklagt „Der Tod donnert lautlos durch den Tag“, gibt es bei Ioana Ieronim einen Ausruf der Erleichterung: „Heute haben wir Impfstoff… Warte nicht länger“. Tröstend klingen auch die Verse in Dagmar Dusils „Panta rhei“. Wenn alles fließt, wird auch diese Pandemie vergehen. „Lass es geschehen/das Werden, Vergehen“.

Im Schlussgedicht „Sei gegrüßt zur Zoom – Stunde“ bringt Ioana Ieronim ein Fazit des geführten lyrischen Dialogs mit Dagmar Dusil. „Wir haben in den Abgrund geblickt und/ seinen Atem gespürt“, sagt sie, aber sie weist auch auf die heilende Kraft der Poesie hin. „Wir umklammerten/eine Handvoll Worte – ein Gedicht/einen Zauberspruch/einen Zauberspruch um das Schließen des Tores zu verhindern“.

Möge der Zauberspruch wirken und die Gedichte allen Leserinnen und Lesern das Herz erfreuen in diesen schwierigen Zeiten und darüber hinaus.