Der Gestalter, Beobachter und Analyst der „uns angebotenen Welt“

Joachim Wittstock wird am 28. August 80 Jahre alt

Als Schriftsteller, als Wissenschaftler, als Wahrer der Traditionen der siebenbürgischen Gemeinschaft hat Joachim Wittstock historische Einschnitte und Wendepunkte seiner Zeit bewusst verarbeitet. Sein eigenes Leben ist bestimmt von markanten Jahreszahlen: 1939, sein Geburtsjahr, der Beginn des Krieges; 1959, der Zwanzigjährige muss mit den Auswirkungen des Ungarnaufstandes als Student in Klausenburg zurechtkommen; 1989, die Wende, der Wissenschaftler und Schriftsteller Joachim Wittstock entscheidet sich, in seiner Heimat zu bleiben und kann unter den neuen Vo-raussetzungen im jetzt freien Austausch mit Künstlern und Forschern aus ganz Europa Wesentliches leisten. 30 Jahre ist das jetzt her, mögen es noch viele fruchtbare werden.

Als kleines Mädchen fragte ich meine Eltern: Was ist ein Wittstock? Das war in der Zeit, als Joachims Vater, der Schriftsteller Erwin Wittstock, sich ab und zu auch bei uns zu Hause mit meinem Vater, Franz Killyen, austauschte. Als Schülerin des Gymnasiums in Kronstadt konnte ich natürlich die „Großen“ – fünf und vier Jahre Älteren – Manfred und Joachim, nur aus der Ferne bewundernd betrachten. Die „Kleinen“, Wolfgang und Rohtraut , waren dann Jahre später meine Studenten. Damit ist aber meine Verbindung zu den Wittstocks nur skizzenhaft angedeutet. Eine erste echte Begegnung mit Joachim fand im Oktober 1990 in Graz statt. Professor Anton Schwob hatte zu einem internationalen Symposium zur Situation der neueren deutschen Literaturgeschichtsschreibung in Ostmittel- und Südosteuropa geladen. Jetzt fühlten wir uns befreit, vieles war möglich. In dem Band „Deutsche Literatur Ostmittel- und Südosteuropas“ wurden die Ergebnisse der Tagung bereits 1992 veröffentlicht. Er bildet den Auftakt zu einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich. Stellvertretend sei hier „Die deutsche Literatur Siebenbürgens“ genannt, 1997 bzw.1999 herausgegeben von Joachim Wittstock und Stefan Sienerth.

Nun ist aber unser Jubilar nicht nur Wissenschaftler. Dem Klappentext seiner zahlreichen veröffentlichten Bücher entnehmen wir: Philologiestudium, abgeschlossen 1961 in Klausenburg, Lehrer in Heltau 1961-1966, Bibliothekar und später Mitarbeiter der Forschungsstelle für Gesellschaftswissenschaften, Ressort Literaturgeschichte in Hermannstadt, Mitglied des Rumänischen Schriftstellerverbandes, der Schiller-Gesellschaft, der Künstlergilde Esslingen. Autor von Lyrik, Prosaskizzen, Erzählungen und von zwei Romanen. Dazu ist er auch Sachwalter über das Werk seines Vaters Erwin Wittstock. Wie passt das alles zusammen? Für Siebenbürgen ist das nicht untypisch: Lehrer waren auch in früherer Zeit häufig Wissensvermittler im weiteren Sinne, Erzieher auch für die Gemeinschaft und dazu Literaten.
Dass diese Häufung von Aufgaben nicht unproblematisch ist, legt Joachim Wittstock selbst u. a. in seiner Studie „Klassisch-romantische Nachklänge im siebenbürgischen Realismus des 19. Jahrhunderts“ dar – erschienen in dem erwähnten von Anton Schwob herausgegebenen Band –, und schreibt mit Bezug auf Traugott Teutsch: „Sein Bestreben, geisteswissenschaftliche Studien (…) und dem ihm als Schulmann, aber auch sonst anhaftenden akademischen Habitus und sein Auftreten als (…) Stadtbürger ins Ästhetische zu wandeln, konnte er nur zum Teil umsetzen“ (S.188). Gelehrsamkeit, gesellschaftliche Repräsentanz. Wie geht das zusammen mit künstlerischer Freiheit und Kreativität? Joachim folgt darin dem Beispiel seines Vaters Erwin Wittstock, von dessen Wortkunst er sowohl durch die posthume Veröffentlichung des Romans „Das Jüngste Gericht von Altbirk“ als auch durch die Studie „Erwin Wittstock. Das erzählerische Werk“ tief geprägt ist.

Und so entstehen – bei allem profunden Wissen – berührende Erzählungen und Romane, Abbilder einer Zeit großer Umbrüche. Sie greifen Themen von allgemeiner Relevanz auf. So das Thema Deportation von Siebenbürgern in sowjetische Arbeitslager in „Bestätigt und besiegelt. Roman in vier Jahreszeiten“ 2003. Das war noch vor Oskar Pastior und Herta Müller. Auch das Thema Schuld und Verantwortung im Krieg wird erstmals 1985 im Erzählband „Ascheregen“ behandelt – die Neuauflage erscheint 2018. Die Vielfalt der Perspektiven – es treten da rumänische, siebenbürgisch-sächsische, Czernowitzer und viele andere Soldaten des osteuropäischen Raums auf – schafft ein differenziertes Bild vom jeweiligen Anteil an Schuld. Schuldig fühlen sie sich alle an diesem Zweiten Weltkrieg, dabei sind sie zugleich Opfer. Der Autor erweitert die Wahrnehmung durch mythische und symbolische Elemente. Sie helfen bei der Bewältigung dieser Gefühle, auch dem Leser.

„Die uns angebotene Welt“, 2007, das ist die Welt der Studenten im Klausenburg der 1959er Jahre. Die Auswirkungen des Ungarnaufstands von 1956 sind deutlich zu spüren. Lähmende Angst, Misstrauen der jungen Leute untereinander. Man konnte ja nicht wissen, wer die Verräter sind, wer wann exmatrikuliert wird. Zugleich spürt man aber, dass etwas in Bewegung gerät. Selbstständiges Denken und Bewerten werden gerade in dieser kritischen Zeit wachsen. Als Studentin kam ich vier Jahre später dazu, erlebte aber doch deutlich diese belastete Stimmung und zugleich ein großes intellektuelles Abenteuer, nicht nur, weil ich auch kurze Zeit dort in der Strada aventuroasă gewohnt habe. Die Veränderungen am germanistischen Lehrstuhl in Klausenburg, aber nicht nur hier, brachten Bewegung in die Forschung, die Lehre, die Publizistik und besonders in die rumäniendeutsche Literatur. Joachim Wittstock setzt diese Entwicklung als Schriftsteller ins Bild, und ist auch als Wissenschaftler, Lehrer und gesellschaftlicher Repräsentant dabei. So fügen sich die drei Aufgabenfelder doch wieder harmonisch zu einem Ganzen.

Joachim Wittstock schreibt weiter. „Forstbetrieb Feltrinelli“ ist bislang seine jüngste Erzählung. So möge es weitergehen. Aus der Fülle des Wissens um Tradition und dem Erleben des Neuen schöpft er Kreativität. Bleibt noch die Frage zu klären, was ein Wittstock ist. Eine Wissenschaftlerin aus dem slawischen Bereich hat erwiesen, dass sich dieser Name weder von weiß noch von weise herleitet, sondern von visoki, also hoch. Hoch auf dem Berg haben vor Jahren Menschen eine Burg errichtet, die das ganze Tal zum Blühen gebracht hat. Ich lebe heute nicht weit von dem Ort dieses Namens, nicht mehr unerreichbar durch eine Grenze getrennt. Hoch auf dem Berg des Geistes, aber auch auf dem der Verantwortung lebt auch Joachim Wittstock, in einem unbeschränkten europäischen Raum wird er 80 Jahre alt: Alles Gute!