Der letzte Zug aus Galatz

Roman „Fuchsrot und Feldgrau“: Zwei Geschichten, ein Krieg, viele Wunder

81 Waggons. Mehr als vier Kilometer Zug. Alle vier Lokomotiven standen unter Dampf. Sie waren abfahrbereit. Die erste Lokomotive gab Signal, die zweite, dritte, vierte. Dann banges Warten. Würde sich dieser Mammutzug überhaupt von der Stelle rühren? Hielten die Kupplungen? Reichte die Kraft der Maschinen, um es auch über die Karpaten zu schaffen? Wie war es um den Zustand der Gleise bestellt? Vor ihnen lagen tausende Kilometer, einige davon direkt durch die Front. Es war ein unglaubliches Abenteuer gewesen, diesen letzten Zug überhaupt zusammenzustellen. Doch das eigentliche Abenteuer lag noch vor ihnen. Der Zug war ihre einzige Hoffnung, Mutter, Vater, Frau oder Kind wiederzusehen, dem Tod noch von der Schippe zu springen…

Dienstag, 22. August 1944. Seit zwei Wochen lag der bayrische Oberleutnant Franz im Lazarett von Galatz. Drei verbretterte Baracken, überfüllt mit über tausend Verwundeten. In der Nacht hört Franz Geräusche. Humpelt in die Dunkelheit hinaus. Im diffusen Licht sieht er, wie hektisch die wenigen Fahrzeuge beladen werden, die dem Lager noch geblieben waren. Franz packt den Stabsarzt am Kragen: Was geht hier vor? Hastiger Wortwechsel: „Die Rumänen werden sich in den nächsten Tagen ergeben. Was meinst du, was dann hier los ist? Die Russen sind im Handumdrehen da. Die hängen uns alle auf.“ „Wo ist der Chef?“ „Der hat sich als erster verpisst.“ „Ihr könnt uns doch nicht im Stich lassen! Ohne Ärzte, Sanis und Schwestern sind wir verloren.“ Der Stabsarzt windet sich aus dem Würgegriff. „Die krepieren auch so alle, auch ohne mich!“

Seit dem 20. August 1944 war die Operation Jassy-Chi{inau in vollem Gange, die zur gänzlichen Zerschlagung der Heeresgruppe Südukraine führen sollte. 60.000 Soldaten waren bereits im April in russische Gefangenschaft geraten. Nun düngten die Körper von hunderttausenden Soldaten die moldauischen Wiesen…

Die Verletzten sind allein. Jeden Tag sterben 20 Männer. Franz und Günther, den beiden dienstältesten Patienten im Lazarett wird klar, dass sie nun das Kommando innehaben. Und die Zeit drängt...

Unglaublicher Fluchtplan

Die Artillerie der Roten Armee feuert bereits auf Galatz. Franz und Günther gehen die Schienen entlang. Kontrollgang. Beratung. Bewegung. Was war das? Auf der Gleisschleife vor ihnen stand ein Zug! Feldgrau, 20 Drehgestellwagen. Auf jedem ein rotes Kreuz. Die Lokomotive fehlte. „Ein Lazarettzug. Der war gestern noch nicht da“, ruft Günther. 

Sie betreten den Zug: 365 weitere Verletzte. Einige haben Typhus. „Pro Tag sterben fünf“, sagt Stabsarzt Theodor Ross. Die Schwestern sind Wasser holen. Nach dem nächsten Bombeneinschlag dann die zündende Idee: Der Zug sei ihre Chance, sagt Franz. „Wieviele Waggons brauchen wir, um alle mitzunehmen?“ 30, 40 Stück. Vier Lokomotiven würden nötig sein – doch woher nehmen? 

Ein Leutnant mit Nickelbrille lugt durch die Tür, stellt sich als letzter Kommandant der Artilleriebatterie der 6. Armee vor. „Die Russen haben uns vor zwei Tagen zerrieben wie ein nasses Stück Seife.“ Noch 34 Mann übrig und ein paar Haubitzen... „Sie haben nicht zufällig einige Lokomotiven?“ scherzt Franz. Der Leutnant grinst. In einem Lokschuppen, unweit, seien zwei versteckt! Noch zwei Loks und 40 Waggons müssen beschafft werden. Ein  unmögliches Unterfangen...

24. August, halb drei Uhr nachts. Warten auf ein schier unglaubliches rumänisches Versprechen: die letzte Lok. Ein Wettlauf mit der Zeit. Nach der Waffenumkehr können jede Minute Verbündete zu Feinden werden. Franz liegt wach. War da nicht ein Geräusch? Ein fast schon eingebildetes: Tuff. Dann wieder: Tuff. Tuff. Und schließlich: Tuuuuuut! Nahezu geräuschlos, wie von Geisterhand bewegt, fährt die Lokomotive ein. Psch, psch, psch, entweicht es aus der Luftpumpe. Samtweich legen sich die Bremsklötze an die Räder. Hunderte von Händen streicheln den metallenen Riesen. Stunden später rollt das Ungetüm aus dem Bahnhof, begleitet von einer Kapelle rumänischer Helfer aus Galatz, die ihnen Obst und Brot zureichen und sich Musikwünsche zurufen lassen. Aus der Ferne sehen die Flüchtenden, wie russische Bomben auf die Stadt niederprasseln. Keine Sekunde zu früh!

Die Fahrt. Fliegerangriffe. Grenzsituationen in Bahnhöfen. Und immer wieder wundersame Hilfe.  Ein Hirte weist ihnen den Weg durch Ploiesti, das einzige intakte Gleis führt mitten durch die Front. Hautnahes Entkommen: Bis die Russen den Zug im dichten Nebel der Nacht bemerken und ihre Geschütze in Position bringen können, sind die letzten Waggons vorbei. Die Pausen: Tote begraben, Verletzte operieren. Neue Verwundete aufnehmen. Die Kunde von dem seltsamen Lazarettzug eilt ihnen gelegentlich voraus. In einem Bahnhof warten Siebenbürger Sachsen mit einem Festmahl auf den Bahnsteigen, füllen den Zug mit Kisten voll Würsten, Brot, Gemüse und Obst. In einem anderen scheint das Abenteuer zu Ende: aussteigen, abladen, der Bahnhofsvorsteher will den Russen vorauseilend mit Gefangenen imponieren, wäre da nicht zufällig das Wort „Typhus“ gefallen… Weiterfahren, rasch!

Momente der Genialität: Wie kennzeichnet man einen Lazarettzug? Mit einem weißen Laken an der Lok, doch woher die Farbe für das rote Kreuz? Eine junge Schwester steckt sich demonstrativ ein Hustenbonbon in den Mund – und dann ihre feuerrote Zunge heraus. Dramatische Pannen: eine Lok entgleist. Nun muss Ballast abgeworfen werden, Bettgestelle fliegen auf die Gleise. Auf einmal steht eine Karawane Flüchtlinge vor ihnen. Vollbremsung. Was nun? Mit Seilen werden die Dächer gesichert, Decken für Frauen und Kinder hochgeworfen. Nicht alle finden Platz. Leere Augen blicken dem schwindenden Zug hinterher. In einem weiteren Bahnhof erkennen die unzähligen Flüchtlinge von Weitem: der Zug ist randvoll. Halten? Zwecklos. Eine Frau wirft trotzdem ein Bündel aufs Dach, es gleitet ab, der Heizer erwischt es im letzten Moment, die Decke landet auf den Gleisen - und er hält einen nackten kleinen Jungen am Fuß. Im Heizraum der Lok kann man sich jetzt kaum noch bewegen, in der Ecke hockt ein alter Mann mit seinem Enkel auf einer Kiste mit Hühnern.

Bewegende und schreckliche Momente wechseln von Etappe zu Etappe, von Bahnhof zu Bahnhof, von Halt zu Halt. Angriffe, Verluste in den eigenen Reihen. Begräbnisse. Beschaffungen. Rettungsaktion: Ein Waggon voller gepeinigter Krankenschwestern. Und kurz vor der erlösenden Grenze scheint dann alles vorbei zu sein…

Kommt der Zug doch noch nach Deutschland? Eine wahre Geschichte hat keinen Anspruch auf ein Happy End. Erst müssen sich Franz und Günther durch verschlafene Schwabendörfer auf die ungarische Seite retten. Und ist das doch noch gute Ende dann wirklich für alle ein gutes? So mancher blutjunge Retter und Held, dem Tod mehrmals knapp entronnen, findet danach den Sinn des Lebens nicht mehr… 

Am Ende entschlüsselt Autor Axel Lawaczeck die handelnden Personen, gibt sich selbst als einer der Nachfahren von Franz zu erkennen, der die Notizen im hohen Alter in seinem schwedischen Exil verfasste und zur Verwendung für den Roman freigab. Seine Geschichte hätte genügt, ein spannendes Buch zu füllen. Doch der Autor hält noch eine Überraschung parat…

Vom Gehetzten zum Rächer

Die Parallelgeschichte: Ein anderes Schicksal, das des blutjungen Russen Wolodja, dem Franz nur einmal auf dem Gebiet der heutigen Ukraine kurz begegnet ist, der Moment sollte ihn für immer verfolgen. Eine geheimnisvolle Fuchsjagd lässt zu, dass sich die beiden Lebensfäden in einem schrecklichen Augenblick kreuzen... Und der Krimjude Wolodja erlebt dieselben Grausamkeiten, die die flüchtenden Deutschen von den Russen berichten. Hilflos muss er zusehen, wie erst seine eigene Familie, dann ein Kinderheim grausam und sinnlos von deutschen menschlichen Bestien niedergemetzelt werden. Brutale Vergewaltigungen. Mit Lachen und derben Späßen begleitete Hassmorde an unschuldigen Frauen und Kindern. Wolodja, der alles verloren hat, wird zum Rächer, verfolgt seine Peiniger, findet auf diesem Weg seine Jugendliebe - und verliert sie wieder. Als Wolodja an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, wo alles begann, zeichnet sich nach schmerzvollen langen Jahren des Herumirrens ein unerwartetes Happy End ab. Auch Wolodjas authentischem Schicksal hat der Autor minutiös nachgespürt. Ende gut, alles gut? Doch das Glück währt nicht ewig…

Selbst wer Kriegsromane ungern liest, kommt nicht umhin, dieses Monsterwerk von 556 Seiten über diesen weniger bekannten, authentischen Teil der Geschichte des Zweiten Weltkriegs mit angehaltenem Atem zu verschlingen. Bezeichnend sind die Wechselbäder der Gefühle. Hoffnung und scheinbare Ausweglosigleit. Schockierende Brutalität und tiefste menschliche Abgründe stehen Momenten höchster, selbstloser Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit gegenüber, auch von Seiten, wo man es am wenigsten erwartet hätte: der russische Arzt, der die deutsche Krankenschwester in einen Schrank schließt, um ihr ein ungewisses Schicksal beim Eintreffen der Roten Armee zu ersparen; der jüdische Bahnhofsvorsteher, der den deutschen Lazarettzug trotz gegenteiliger Weisung aus dem Bahnhof winkt; die beiden Banater Schwäbinnen, die Franz und Günther die Flucht ermöglichen, alles aufgeben und ihr eigenes Leben gefährden. Und die immer wieder schier unglaublichen Zufälle, die sich kein erdachter Roman erlauben könnte – sondern nur das wirkliche Leben!

"Fuchsrot und Feldgrau“, Axel Lawaczeck, Volk Verlag München, ISBN 978-386222-345-9