Der Opa war ein Nazi

In „Die Lebenden“ will Barbara Albert die Vergangenheit ihrer Familie verarbeiten

Schwierige Vergangenheit: Sita (Anna Fischer) muss auf der Geburtstagsfeier ihres 95-jährigen Großvaters (Hanns Schuschnig) erfahren, dass er Wachmann in Auschwitz war.

Ein großer Filmerfolg kann Segen und Fluch zugleich sein. Barbara Albert hat mit ihrem Spielfilmdebüt „Nordrand” (1999) einen Wendepunkt in der österreichischen Filmgeschichte eingeleitet. Schließlich war es der erste Film Made in Austria der seit 51 Jahren für den Goldenen Löwen nominiert wurde. Zwar beließ es die Jury bei einer Nominierung, dafür aber wurde Nina Proll als Beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Für die damals 25-Jährige bedeutete es einen Karrieresprung. Alberts Frauendrama „Nordrand“ wurde mit zahlreichen Preisen bedacht und war sogar Österreichs Einsendung auf eine Nominierung bei der Oscarverleihung im Jahr 2000.
Es ist also nur verständlich, dass Albert mit ihrem jüngsten Film an alte Erfolge anknüpfen möchte. Mit ihrem neuen Drama „Die Lebenden“ verhält es sich ein wenig so, wie mit dem zweiten Kind: Was das  erste nicht geschafft hat, soll das zweite dreimal besser können. Obwohl Albert zwischen damals und heute noch drei Dramen und einen Dokumentarfilm gedreht hat.

Denn in ihrem neuen Film wendet sich Albert, genau wie in „Nordrand”, Osteuropa zu, und zwar dem Ursprungsland ihrer Familie. Die Protagonistin Sita, gespielt von der deutschen Schauspielerin Anna Fischer, ist zur Hälfte Rumänin. Ihr Großvater stammte ursprünglich aus Siebenbürgen und gehörte zur deutschen Minderheit im Land. Während des Zweiten Weltkrieges wanderte der Opa nach Österreich aus, wo er anno 2012 in einem Altenheim seinen 95. Geburtstag feiern durfte. Nach der Feier stößt Sita auf ein altes Bild des Großvaters, worauf er in SS-Uniform posiert. Es stellt sich heraus, dass Hermann Weiss nicht nur ein Siebenbürger Sachse war, sondern auch ein Nazi. Von dieser Entdeckung erschüttert, wendet sich Sita an ihren Vater (August Zirner). Dieser will über die Vergangenheit nicht reden. Darum beschließt sie, allein nach der Wahrheit zu suchen, und bricht auf eine Recherchereise auf, die sie nach Polen und schließlich nach Rumänien führt.

Auf der Suche nach der Wahrheit füttert der Film die Zuschauer mit leicht verdaulichen Antworten. Eins ist sicher: Es soll in der Brust wehtun und nicht Kopfschmerzen verursachen. Der Filmemacherin scheint es eher um Sitas emotionale Achterbahnfahrt zu gehen und weniger um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Zwar wird öfters die Frage nach der Schuld gestellt. Diese wird sowohl an Sita gerichtet, als direkte Nachfahrin eines Täters, als auch an den Täter selbst, Hermann Weiss – eindrucksvoll gespielt von dem ausgewanderten Hermannstädter Theaterregisseur Hanns Schuschnig. Während letzterer auf unschuldig plädiert, liegt es an Sita, den endgültigen Urteilsspruch zu verhängen. Was sie nicht kann. Und scheinbar soll sie es auch nicht. Stattdessen plädiert Albert auf Überwindung statt Verdrängung. „Deal with it” würden die Amerikaner sagen, was Sita letztendlich auch tut.

Nur schade, dass die Handlung so konstruiert wirkt: Ständig werden Zufälle aneinandergereiht. Überall trifft Sita die richtigen Menschen, um die Geschichte voranzubringen. Sei es eine gleichaltrige junge Frau in Auschwitz, deren Großmutter auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns stand, sei es der neue Freund, der zufällig aus Israel kommt, sei es eine alte Frau in Rumänien, die zufällig Deutsch sprechen kann. Besonders die Beziehung Sitas zu Jocquin (Itay Tiran) wirkt künstlich und aufgedrängt: Nachdem sie sich in einer Berliner Bar kennenlernen, eine Nacht zusammen verbringen und sich danach ein paar mal über SMS verständigen, möchte uns Albert ihre Beziehung als große Liebe verkaufen. Nur damit es später zu einer Auseinandersetzung kommt, in der Sita ihre Beziehungsprobleme auf die SS-Vergangenheit ihres Großvaters zurückführen kann.

Die ständigen Zufälle könnten natürlich Absicht sein. Immerhin hat sich Barbara Albert als Drehbuchautorin dafür entschieden, ihrer Protagonistin den Namen Sita zu geben. Dieser ist weder österreichisch noch rumänisch, sondern indisch. Als Namenspatronin diente die Hindu-Göttin der Landwirtschaft, die im indischen Nationalepos Ramayana als Frau der Heldenfigur Rama aufgeführt wird. Eigentlich ein schöner Name und mit Verweis auf die Geschichte des Epos clever ausgewählt. Schließlich gilt Sita als eine gehorsame Tochter, die sich dem Willen der Männer beugt, was die Protagonistin aus Alberts Drama nicht tut. Gleichzeitig hat die indische Sita nach dem Tod ihres Mannes die Schuld nur bei sich selber gesucht und überlegt, was sie falsch gemacht haben könnte, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war. Die österreichisch-rumänische Sita macht das Gleiche durch, nachdem der Großvater stirbt und Fragen offenstehen.
Viele Fragen bleiben für den Zuschauer während und nach dem Film auch offen. Weshalb sich zum Beispiel die Siebenbürger Sachsen den Nationalsozialisten anschlossen. Für Albert, die siebenbürgische Wurzeln hat und die mit „Die Lebenden“ ihre eigene persönliche Geschichte verarbeiten möchte, mag die Antwort selbstverständlich sein, für den Zuschauer in Westeuropa, der mit Rumänien kaum etwas anfangen kann, nicht. Dessen Grundkenntnisse hören meistens bei Dracula auf.

Und gerade weil es eine so persönliche Geschichte für Barbara Albert ist, wirkt der Film eher zurückhaltend statt gewagt. „Die Lebenden“ trifft niemals das Ziel, weil der Film es ständig umgeht. Darum scheint der Film an dem gleichen Problem zu leiden, wie seine Protagonistin Sita: Beide wissen nicht so recht, wer sie sind und wo sie hin wollen. Und wenn Albert und ihr Alter Ego darauf keine Antwort haben, wie soll es dann der Zuschauer?