Der Traum ein Leben, das Leben ein Traum

Vincenzo Bellinis „Die Nachtwandlerin“ in der Stuttgarter Staatsoper

Die viel gerühmte Stuttgarter Inszenierung der Oper „La Sonnambula“ (Die Nachtwandlerin) von Vincenzo Bellini, die im Jahr ihrer Premiere 2012 von der Fachzeitschrift „Opernwelt“ die ehrenvolle Auszeichnung „Aufführung des Jahres“ verliehen bekam und deren Sängerin in der Titelrolle Anna Durlovski für ihre Interpretation der Amina mit dem „Faust“-Preis des Deutschen Bühnenvereins prämiert wurde, gehört auch in der laufenden Spielzeit zum Repertoire der Stuttgarter Staatsoper. Bei der Aufführung am 2. Mai 2014 unter der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito waren, neben der gefeierten Anna Durlovski, auch Catriona Smith als Lisa wieder mit von der Partie, die, ebenso wie der Dirigent Gabriele Ferro, bereits bei der erfolgreichen Stuttgarter Premiere der Bellinischen Belcanto-Oper mitgewirkt hatten.

Wie in der Inszenierung von Bellinis „Norma“, die bereits im Jahre 2002 am Stuttgarter Großen Haus Premiere hatte, so zeichnet auch in „La Sonnambula“ Anna Viebrock, die auf zahlreiche gemeinsame Projekte mit den Regisseuren Wieler und Morabito zurückblicken kann, für Bühne und Kostüme verantwortlich. Was die Einkleidung der Sängerinnen und Sänger des Staatsopernchors in Bellinis „La Sonnambula“ angeht, so ließ sich Anna Viebrock von historischen Grabmedaillons inspirieren, die sie auf italienischen Friedhöfen fotografiert hatte. Auf der Grundlage dieser realen Vorbilder schuf sie ein optisch individualisiertes Ensemble, das es dem Zuschauer ermöglichte, sich in das historische Ambiente der Bellinischen „Opera semiseria“, einer Mischgattung zwischen heiterer „Opera buffa“ und ernster „Opera seria“, einzufühlen.

Wie die Oper „La Sonnambula“ selbst, so bewegt sich auch ihre Titelgestalt zwischen zwei Welten, oder, besser gesagt, auf dem schmalen Grenzgrat zwischen ihnen. Als Schlafwandlerin handelt sie, als sei sie wach, obgleich ihr träumt, und im Traum erlebt sie ihr Schicksal bewusster als im Wachzustand. Der Graf Rodolfo spricht dies im Libretto von Felice Romani, der auch für die beiden Bellini-Opern „Norma“ und „Beatrice di Tenda“ sowie für Opern von Rossini, Donizetti, Verdi und Meyerbeer Libretti verfasste, deutlich genug aus: „Es gibt Leute, die schlafend umhergehen, als wären sie wach. Sie sprechen und antworten, wenn man sie fragt, man nennt sie Schlafwandler, weil sie schlafen und wandeln.“

Warum der Operntitel „La Sonnambula“ in Stuttgart als „Die Nachtwandlerin“ ins Deutsche übertragen wurde, bleibt deshalb merkwürdig, wenn man nicht die Nacht im romantischen Sinne eines Novalis als Urelement des Lebens verstanden wissen will, zumal die große Schlafwandelszene im Schlussteil von „La Sonnambula“ während des morgendlichen Kirchgangs, also gerade nicht zur Nachtzeit, sich vollzieht. Vielleicht ließ sich das Stuttgarter Dramaturgie- und Regieteam einfach nur von Flauberts Definition aus dessen „Wörterbuch der Gemeinplätze“ leiten, in dem unter dem Stichwort „Somnambule“ folgende Erklärung verzeichnet ist: „Se promène la nuit sur la crête des toits“ (spaziert nachts auf Dachfirsten).

Die Nacht- und Schattenseite des Schicksals der Opernprotagonistin Amina wird in der Stuttgarter Inszenierung zudem durch das omnipräsente Erscheinungsbild eines Gespensts – Antje Albruschat als La Strige – unterstrichen, das nicht nur als Doppelgängerin und Alter Ego Aminas fungiert, sondern zugleich als wandelndes Memento die Schuld des Grafen Rodolfo wachruft, der für den Tod der Mutter Aminas und für deren vaterloses Aufwachsen die Verantwortung trägt. Bellini freilich bat seinen Librettisten, diese Aspekte der Handlung, die auf Eugène Scribes Vaudeville-Komödie „La sonnambule ou l’arrivée d’un nouveau seigneur“, der Textvorlage von Felice Romanis Libretto, beruhten, in seiner eigenen Oper zu unterdrücken. Die Zusammenführung von Vater Rodolfo und Tochter Amina hätte nicht nur dem ernsten und tragischen Charakter der Oper widersprochen, sondern auch dem schlussendlichen Triumph der Liebe zwischen Elvino und Amina ein fremdes und störendes Element beigemengt.

Der Zuschauer selbst wird in dieses Spiel von Leben und Traum, Wachheit und Schlaf, mit hineingezogen, wenn ihm in Stuttgart zugemutet wird, das dramatische Geschehen, die äußerliche Handlung, ganz aus dem Inneren der Figuren heraus wahrzunehmen und zu begreifen. Beispielsweise gibt das Bühnenbild keinen Anhaltspunkt und keinerlei Anschauungshilfe für den waghalsigen Gang der schlafwandelnden Amina über das Dach der Mühle, bei dem sie jederzeit auf das rasend sich drehende Mühlrad niederzustürzen und von diesem zermalmt zu werden droht. Vielmehr geben einzig Text und Gesang, Pose und Klang Auskunft über den atemberaubenden Höhepunkt der Oper „La Sonnambula“.

Das Fehlen dieser äußeren Elemente unterstreicht jedoch die von der Stuttgarter Inszenierung verfolgte Interpretationslinie der Verinnerlichung: Ob Amina nun im Traum zum Leben erwacht oder ob sie ihr Leben bloß erträumt, sie bewegt sich auf jeden Fall im Grenzbereich zwischen Wachzustand und Traumbewusstsein.

Trotz dieser Konzentration auf die innere Erfahrung gibt es in der Stuttgarter Inszenierung von „La Sonnambula“ viel zu sehen und noch mehr zu hören. Grandiose Massenszenen, bei denen der stimmgewaltige Chor nicht nur als Bühnenpersonal Tische und Bänke auf- und abschlägt, sondern auch als aufgebrachte Dorfgemeinschaft mit Äxten, Sensen, Sicheln, Dreschflegeln, Hämmern und Heugabeln in das Schlafzimmer des Grafen eindringt, wechseln mit beseligenden intimen Szenen, bei denen sich die Gesangssolistinnen und -solisten zu großer Form aufschwingen, allen voran Ana Durlovski als Amina, gefolgt von dem in Rumänien geborenen und in Großwardein/Oradea ausgebildeten Tenor Gergely Németi als Elvino, von dem chinesischen Bassisten Liang Li als Rodolfo, der britischen Sopranistin Catriona Smith als Lisa bis hin zur finnischen Mezzosopranistin Hilke Andersen als Teresa und dem in Israel geborenen Bariton Motti Kastón als Alessio.

Eine Fülle von oftmals direkt mit der Musik kommunizierenden Regieeinfällen und ein gerüttelt Maß an szenischem Humor machen zusammen mit der überragenden Qualität des Orchesters, des Chors und der einzelnen Rolleninterpretinnen und -interpreten die Stuttgarter „La Sonnambula“ zu einer immer noch und immer wieder sehenswerten Inszenierung der zu Bellinis Lebzeiten erfolgreichsten Oper des früh verstorbenen italienischen Belcanto-Komponisten.