„Der Überläufer“ von Siegfried Lenz

Romanverfilmung von Florian Gallenberger in der ARD-Mediathek

Szene aus „Der Überläufer“

Am Mittwoch vor Gründonnerstag sowie am Karfreitag wurde im ARD-Fernsehprogramm „Das Erste“ die im vergangenen Jahr in Polen und Deutschland produzierte Verfilmung des Romans „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz erstmals ausgestrahlt. Der Spielfilm, zu dem der Regisseur Florian Gallenberger zusammen mit Bernd Lange das Drehbuch schrieb, kann in der ARD-Mediathek (https://www.ardmediathek.de/ard/) als Zweiteiler mit einer Gesamtdauer von drei Stunden noch bis Anfang Juli kostenlos abgerufen werden.

Der Roman mit dem Titel „Der Überläufer“ aus dem Jahre 1951, der zweite von insgesamt fünfzehn Romanen des 1926 im ostpreußischen Lyck geborenen und 2014 in Hamburg gestorbenen Erzählers Siegfried Lenz, wurde von Hoffmann und Campe, dem Verlag, dem Lenz lebenslang die Treue hielt, nicht zur Publikation angenommen, ganz im Gegensatz zu Lenz’ Debütroman „Es waren Habichte in der Luft“ aus demselben Jahr 1951. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um die Geschichte eines Soldaten handelt, der gegen Kriegsende von der Wehrmacht zur Roten Armee überläuft, also um die Geschichte eines deutschen Verräters und Deserteurs. Verwunderlich ist dagegen, dass Siegfried Lenz in späteren Jahren als berühmter und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller diesen Roman nicht doch noch selbst veröffentlichte, sondern ihn 2014 zusammen mit seinem gesamten Vorlass an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar gegeben hat.

Nach seinem posthumen Erscheinen im Jahre 2016 wurde „Der Überläufer“ zum Bestseller, wie schon knapp ein halbes Jahrhundert davor Lenz’ siebenter Roman „Deutschstunde“, sein vielleicht berühmtestes Werk. In beiden Romanen geht es um die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und um das für die deutsche Nachkriegsliteratur zentrale Thema der Vergangenheitsbewältigung, insbesondere um den Begriff der Pflicht im Spannungsfeld von seitens der Obrigkeit eingefordertem kollektiven Gehorsam und individueller Selbstverantwortung.

Die Pflicht ist es auch, die den Frontsoldaten Walter Proska (Jannis Niewöhner), der im Sommer 1944 auf dem Pommerschen Familiengutshof seinen Heimaturlaub verbringt, dazu zwingt, sich wieder zu seiner in Polen stationierten Kompanie aufzumachen, gegen den Widerstand seiner Schwester Maria (Katharina Schüttler) und seines Schwagers Kurt (Shenja Lacher). Fast wie ein amerikanischer Hobo oder Eisenbahn-Tramp reist er in einem Wehrmachtszug zur Ostfront, wo er hinter dem Rücken des befehlshabenden Offiziers eine hübsche und stolze Polin namens Wanda (Malgorzata Mikolajczak) in seinem Güterwaggon mitfahren lässt, in die er sich sogleich verliebt und die ihm in entscheidenden Momenten des Films wieder begegnen wird. Wanda erweist sich freilich unvermutet als Partisanin, deren Versuch, den Wehrmachtszug in die Luft zu sprengen, Walter durch Zufall vereitelt. Der Zug fährt wenig später gleichwohl auf eine Landmine und wird dabei völlig zerstört.

Walter wird als einziger Überlebender von einer deutschen Patrouille, die die Bahnlinie zu sichern hat, gerettet und in einen Bunker mit dem schönen Namen „Waldesruh“ gebracht, wo der Patrouillentrupp unter dem Kommando des sadistischen Unteroffiziers Willi (Rainer Bock) auf verlorenem Posten die Stellung hält. In den angrenzenden Wäldern und Sümpfen kommt es immer wieder zu Scharmützeln mit polnischen Partisanen wie auch zu erneuten Begegnungen von Walter und Wanda: immer auf dem schmalen Grat zwischen Hingabe und Verrat, Treue und Trug, Liebe und Tod.

Das Thema des Verrats spielt nicht nur in der Beziehung Walters zu Wanda eine große Rolle, sondern auch in der Beziehung zu seinem Kameraden Wolfgang (Sebastian Urzendowsky), der sich als Teil des „anderen Deutschlands“ begreift und Walter ständig auffordert, mit ihm gemeinsam zur Roten Armee überzulaufen. Während Wolfgangs Wille zur Fahnenflucht dezidiert politisch motiviert ist, ist Walter hin- und hergerissen zwischen seinem Pflichtgefühl gegenüber dem geleisteten Eid und dem diffusen Wunsch, der Spuk des Krieges möge endlich aufhören und Friede eintreten. Er wird schließlich zum Überläufer nicht aus Überzeugung, sondern eher durch Glück – Wanda lässt ihn aus der Partisanenhaft entkommen – und auch durch Zufall: Wolfgang rettet ihn in einem russischen Kriegsgefangenenlager vor dem sicheren Tod und sorgt für seine Eingliederung in die Rote Armee als aktiven Wehrkraftzersetzer, der deutsche Soldaten per Megaphon und zu den Klängen des Liedes „Ein Freund, ein guter Freund“ der Comedian Harmonists dazu aufruft, die Waffen niederzulegen.

Bei einem Festgelage der Roten Armee begegnet Walter Wanda wieder, die, selbst einem Massaker durch die Rote Armee entronnen, nun für deren Soldaten russische Tanz- und Trinklieder singt, aber auch ein polnisches Chanson, das von Liebe, Schuld und Vergebung erzählt und gleichsam zum Leitmotiv des gesamten Filmes avanciert. Die trotz schwerer gegenseitiger Schuldbeladenheit wieder aufgeflammte Liebe zwischen Wanda und Walter entzündet in diesem die Idee zu einer zweiten Fahnenflucht: weg von der Roten Armee und gemeinsam mit Wanda in ein Versteck, um dort zu zweit Kriegsende, Frieden und Freiheit abzuwarten. Aber Wolfgang hintertreibt Walters Überlaufen in eine Welt privaten Glücks, und Wandas Vorahnung, dies sei wohl die letzte Begegnung zwischen ihr und Walter gewesen, scheint sich nach dem Misslingen der gemeinsamen Flucht zu bewahrheiten.

Zahlreiche Episoden, die einen Großteil der Spannung des grandiosen Zweiteilers ausmachen, seien hier um des Filmgenusses willen nicht wiedergegeben, etwa die Wiederbegegnung Walters mit Schwester und Schwager auf ihrem Pommerschen Hof in den letzten Kriegsmonaten. Vielmehr sei das Hauptthema des Films auch in der Nachkriegszeit weiterverfolgt, während der Walter in der Kommandantur des Sowjetischen Sektors von Berlin für die Ausstellung von Passierscheinen in die Trizone zuständig ist. Dort begegnen ihm Verrat und Hinterlist in Gestalt von Denunziation und Treuebruch wieder: sogar seitens seines alten Kameraden und neuen Vorgesetzten Wolfgang, der von Walter Informationen über den Leuteschinder und Sadisten Willi, ihren ehemaligen Truppführer, erpresst, im Gegenzug gegen frei erfundene Angaben über den Aufenthaltsort seiner Geliebten Wanda.

Während Wolfgang dieses Vorgehen als „aktiven Pazifismus“ rechtfertigt, sieht Walter in einer solchen Art der Vergangenheitsbewältigung im Sowjetsektor bzw. in der Sowjetzone die Wiederkehr einer Diktatur, der er sich entronnen glaubte und in der statt Gerechtigkeit das Gesetz der Rache herrscht. Beeindruckend sind in diesem Zusammenhang etwa die Rede des sozialistischen Funktionärs Ernst Menzel (Ulrich Tukur) im Zeichen Stalins und die Szene im späteren Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Und erneut wird Walter von einer Frau gerettet: von seiner Sekretärin Hilde, die ihn, obschon von Wanda wissend, lieb gewonnen hat. Hilde warnt Walter vor seiner unmittelbar bevorstehenden Verhaftung und beide fliehen unter Lebensgefahr bei Nacht und Nebel in die britische Besatzungszone. Doch auch in diesem Falle ist Walters Flucht nicht primär regimekritisch motiviert, sie entspringt vielmehr einem Überdruss an jeglicher staatlichen Fremdbestimmung, die ihn am wahren Leben in Freiheit und Selbstverantwortung hindert.

Im Gegensatz zum Roman „Der Überläufer“ enthält das Drehbuch zum Film einen Epilog, der in den Fünfziger Jahren in Hamburg spielt. Hilde und Walter sind glücklich verheiratet, Eigenheim und zwei wohlgeratene Kinder inklusive. Doch da tritt eines Tages Wanda wieder mit aller Macht in Walters private Idylle und das offene Ende des Films lässt die Frage unbeantwortet, ob Walter von der einen der zwei Frauen, die ihm beide ihre Liebe schenkten und sein Leben retteten, zur anderen überlaufen wird. Insgesamt also großartiges Fernsehkino, spannend und gehaltvoll zugleich, mit historischer wie seelischer Tiefe, mit kammerspielartigen Auftritten neben betäubenden Massenszenen, voller herrlicher Bilder (Kamera: Arthur Reinhart) und wunderbarer Musik (Komposition: Antoni Lazarkiewicz).