Deutsch-Rumänische Klänge und neue Impulse für eine Wissenschaft

Die Bukarester Germanistin und Schriftstellerin Ioana Crăciun

Gratwanderung zwischen Literatur und Wissenschaft: Ioana Crăciun

So leicht kann das Schreiben rund ums Schreiben sein. Als Ioana Crăciun Anfang der neunziger Jahre ihren literaturkritischen Einzug in das bereits vielfach gepflügte Feld der Bukarester Germanistik hielt, war das Fach seit geraumer Zeit im Begriff, „sich neu zu erfinden”: zu sich selbst zu finden. Eine Gesellschaft war gegründet worden, die an die rumänische Tradition der vielseitig ausgerichteten, niveauvollen Germanistik der Zwischenkriegszeit anlehnen wollte, eine erste Publikation dieser neuen Gesellschaft in Lauf gebracht, die „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“. Erste Schritte in Richtung Auslandsgermanistik waren getan, nein, in Betracht gezogen worden. Dazwischen, dahinter, darüber hinweg die mittlerweile klassische Jandl-Frage: „Jo brauch ma dn die germanistn?”

Ja, die braucht man. Heute leitet Professor Crăciun, Stellvertretende Direktorin des Exzellenz- u. Forschungszentrums „Paul Celan“ der Universität Bukarest, die Zweigstelle Bukarest der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens, wirkt im Landeskomitee, mischt bei der Veranstaltung von Kongressen, bei der Betreuung von Fachzeitschriften (u. a. schon als Redakteurin der allerersten Nummer der transcarpathica (2002) –  mehr dazu auf http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/poenaru_transcarp_frm.htm) und beim Beschwören der Geschicke rumänisch-deutscher Gänge und Klänge im weitesten Sinne mit. Zahlreiche Übersetzungen und eigene Werke der in Tübingen promovierten Literaturwissenschaftlerin liegen vor, darunter folgende Buchpublikationen: „Mystik und Erotik in Christian Morgensterns Galgenliedern“. „Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ und „Historische Dichtergestalten im zeitgenössischen deutschen Drama“ (u. a. in „Ostragehege“ 58 besprochen).

Es war ein schöner, angenehm warmer, ruhiger Herbsttag in rumänischen Landen, als Crăciun mit ihrem strapazierten Bücher-Tross und dem noch kaum abgewetzten Doktorhut in der Strada Pitar Moş in Bukarest, dem Zentrum rumänischer Germanistik-Getriebe, ankam. Die Sonne schien, die Studenten strahlten übers ganze Gesicht ... oder um etwas gemäßigter zu bleiben: Es war ein guter Tag. Mit Ioana Crăciun setzte ein neuer Rhythmus, eine neue Melodie des deutschsprachigen Vermächtnisses rumänischer Nation ein (stimmt, diese theatralische Formulierung ist weder originell noch folgerichtig, nur, es fällt schwer, das Moment des damaligen, des heutigen Zusammenhangs der Einschleusung einer Dozentin mit unerhörter Tatkraft in seiner ganzen Tragweite zur Sprache zu bringen). Ein Spionage-Coup (incursiune de spionaj) sei ihre Rückkehr nach Rumänien, so Ioana Crăciun Ende 1992 in einem Interview mit Adina Bardaş (Radio România Cultural), das sich vor allem auf Crăciuns Leistungen als Theaterautorin bezog und denn auch sinngemäß eines schönen Abends nach einer Aufführung im Foyer eines Theaters stattfand.

Vom Theatersaal und seinen dramatischen Welten (mitsamt ihren möglichen Wendungen) über den wissenschaftlichen Handapparat ins Klassenzimmer, genauer gesagt in den Goethe-Saal des Deutschen Seminars der Universität Bukarest, der damals, vor rund zwanzig Jahren, gerade renoviert und neu eingerichtet wurde, worauf es natürlich eine festliche Feier gab, zu der Crăciun aus ihren Werken las. Was die junge Dozentin bereits auf literarischer, auf literaturwissenschaftlicher Ebene erreicht hatte, sei zum großen Teil das Verdienst ihrer ehemaligen Professoren in Rumänien. Ein Teil des Ganzen – oder poetisch ausgedrückt: ein Teil von jener Kraft?

Und doch: Sie war nicht bescheiden, sah sich als einen „alten Hasen“ auf dem Gebiet der sprachpolizeilichen Ermittlungen, fühlte sozusagen stets dem Text, dem Kontext und dem Ko-Text  auf den Zahn, jagte das entsetzte Studentenvolk – ja, ein bisschen furchterregend war sie schon, aber vor allem sachlich orientiert und jedenfalls durchaus kompetent – auch gerne mal quer und krumm durch die allerausführlichsten Fußnoten kritischer Editionen. Aber vielleicht hatte sie ja nur schrecklich viel gelesen.

Crăciun ermittelte im Rahmen ihrer  Seminare zum deutschsprachigen Dokumentartheater nicht zuletzt „Die Ermittlung“ (Peter Weiss) selbst, versuchte anhand von Dürrenmatts „Minotaurus“ oder anhand von Grimmelshausens „Simplicissimus“ zu erweisen, dass Hermeneutik ein Ding sein kann und dass die Dinge auf deutschsprachig begangenen Wegen der Erkenntnis, der Spekulation, des kreativen Umgangs mit Sagbarem im wörtlichen Sinne bald so, bald anders geraten.

„Hat denn zur unerhörten Tat der Mann allein das Recht?“ Mit diesem erbaulichen Goethe-Zitat aus „Iphigenie auf Tauris“ zog Ioana Crăciun zu Felde, als sie in jener Zeit der Neugestaltung rumänischer Germanistik ihren Vortrag über Not und Leben und Mut und Lust und Liebe und große Taten und altes Recht und neues Schreiben im Bukarester Goethe-Institut hielt. Ein dementsprechend zum Kontext passendes Goethe-Wort? „Wir möchten jede Tat so groß gleich tun als wie sie wächst und wirkt.” Immer aufs Ganze gehen, damit könnte man Crăciuns Geworfenheit der Dinge, die zurück ins Wort gekrochen sind, in Anlehnung an ihren Lyrikband („Krochen alle Dinge ins Wort zurück”) als Wappenspruch zusammenfassen. Fünfzehn Jahre später in Walsers Handschrift: „(...) ich glaube, Sie und ich sind die einzigen, die das Stück („In Goethes Hand” von Martin Walser) ganz verstanden haben“. Ja, das leuchtet ein.

Deutsche Sprache, rumänische Ortung. In der sogenannten Auslandsgermanistik dreht es sich oft um Standortbestimmungen. Dass man die Germanistin Ioana Crăciun braucht, würde Jandl wohl mit dialektal gefärbtem Klang bestätigen. „Jo.” Aber natürlich müsste man dann gleich weiter fragen, ob Professor Crăciun wirklich eine Auslandsgermanistin ist. Bisweilen hat es nämlich eher den Anschein, dass sie seit je im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, in dem sie oft wohl eher als Exponentin der Inlandsgermanistik herumgeistert, ihr auf wundersam geschwungenen Klangwellen rumänischer Germanistik (oder muss man heutzutage unbedingt German Studies sagen?) dem Transcarpathischen dienliches Unwesen treibt.

„Wortakrobat ohne Netz”, so der Titel eines weiteren Lyrikbands von Ioana Crăciun, in dem die Urplötzlichkeit des Zusammenreimens von Sinn und Form anklingt, das Aufblitzen von Sagbarkeit, der Salto ins Leere, den jeder, der etwas sagen will, wagen muss, der Lebendigkeits-Salto, aus dem – wenn es sich so fügt – ein Wort wird, das etwas in die Wege leitet: eine unerhörte Tat, einen in dieser Ausformung noch nicht vernommenen deutschen Klang in rumänischen Landen, einen akrobatischen Lebenslauf jenseits von Konstanza/Constanţa und Bukarest und Heidelberg und Tübingen und Graz und Marbach und den Grachten der Niederlande, kurz: eine Berufung. Das Spracherlebnis kommt stets auf seine Kosten. Die Dichterin steckt in einer Welt der Befunde, und die Wissenschaftlerin steckt in einer Welt der Empfindungen. Jede Formulierung: ein Risiko, ein Griff ins Ungewisse, ein Zusammenbruch von Welten, ein Schöpfungsakt. In diesem Sinne wird der Umgang mit Texten in ein todernstes Spannungsfeld ontologischer und poetologischer Betrachtungen gerückt, in dem das Mysterium der Deutung waltet – und alles Verkehrte im wörtlichen Sinne wegjagt.

Um sich in Ioana Crăciuns akademisches, in ihr schöpferisches Tun und Treiben einzuarbeiten, um ihre tiefgründig angelegte, oft anspruchsvoll verschränkte und dabei immerhin unwahrscheinlich lebendige Metaphernwelt ganz zu erfassen, um sich von dem mal ruhigen, mal reißenden Fluss ihrer Sprache, ihrer geschickt zu Markte getragenen Worte und Mythen treiben zu lassen, braucht es ein klein bisschen Wachsamkeit – oder gar Besonnenheit? Nein, das wäre zu früh angesetzt, denn dann hätten wir ja eigentlich das Thema des Ursprungs der Sprache schlechthin im Visier, was freilich strenggenommen zwingend zur Sache gehört, geht es doch darum, eine Professorin und Dichterin sinnbildlich zu erfassen, die leicht über das Konglomerat ihrer Noten, ihrer Töne, ihrer Zahlen und Figuren hinweg schießt, um auf der Bühne, im Klassenraum, vor dem Mikrofon, rund um die Archive und zwischen den Zeilen, ja zwischen den Sprachen mehr Sinn zu schöpfen. Entschlüsselung als Steckenpferd. Dramatik: eine Familientradition. Deutsch zum Atmen. So schwerwiegend kann Germanistik sein.