Deutsche Sprachinselwörterbücher: für wen?

Mit dieser Frage beschäftigten sich Dialektologen und Lexikografen in Wien

Das Institut für Österreichische Dialekt- und Namenlexika des Zentrums Sprachwissenschaften, Bild- und Tonbandaufnahmen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) veranstaltete in Zusammenarbeit mit dem Verein der Freunde der im Mittelalter von Österreich aus besiedelten Sprachinseln einen internationalen Workshop in Wien. Dazu waren Dialektologen und Lexikografen aus deutschen Sprachinseln eingeladen, die sich außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums (Deutschland, Österreich, die Deutschschweiz, Liechtenstein, Südtirol, Luxemburg und die deutschen Gebiete in Belgien und Dänemark) befinden.

Ingeborg Geyer, Sprachforscherin und Leiterin des Wiener Instituts, arbeitet im Rahmen linguistischer, lexikografischer sowie onomastischer Bereiche und hat Bedeutendes für das Entstehen von Sprachinselkontakten geleistet. Sie brachte einen zusammenfassenden Überblick bezüglich der Sprachinselwörterbuchlandschaft im Allgemeinen. Hervorzuheben ist, dass den eigentlichen Wörterbüchern immer Wortschatzsammlungen vorausgehen, die meisten dieser Sammlungen sind aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeugt. Sie wurden von Laien angelegt und anschließend wissenschaftlich verarbeitet.

Bei dem Gestalten von Sprachinselwörterbüchern können folgende Fragen gestellt werden:
Soll das Sprachinselwörterbuch den Gesamtwortschatz einer Sprachgemeinschaft behandeln, oder nur Fachbereiche?
Ist der Verfasser des Wörterbuchs ein Deutschsprechender oder ein Nichtmuttersprachler?

Auch müssen verschiedene Typen von Wörterbüchern unterschieden werden, z. B. wissenschaftlich für Laien verfasste oder von Laien für Laien geschriebene. Aus den Ausführungen ging letztlich hervor, dass besonders wichtig das Verfassen von Sprachinselwörterbüchern ist, die aussterbende deutsche Mundarten außerhalb des deutschen Sprachraums behandeln, zum Beispiel: die Mundart der Sprachinsel Zahre in Karnien (Friaul, Provinz Udine, Italien), das Deutsche der zimbrischen Ortschaft Lusern (Südtirol, Italien), die ungarndeutschen Mundarten sowie die siebenbürgisch-sächsischen Mundarten.

Maria Erb, Elisabeth Knipf-Komlósi und Márta Müller, Linguistinnen am Institut für Germanistik der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, sprachen über den Aufbau und die Darstellungsweise von ausgewählten Lemmatypen im Wörterbuch der ungarndeutschen Mundarten (WUM). Das noch ausstehende Wörterbuch soll im Rahmen des Instituts erstellt werden. An dem Projekt sind die beiden Universitäten Budapest und Pécs beteiligt. Es geht um das Wortgut drei größerer Siedlungsräume, die gleichzeitig auch als Arbeitsgebiete gelten: erstens Mittelungarn, zweitens Südungarn, das heißt die „Schwäbische Türkei“ mit den Komitaten Branau, Tolnau, und Schomodei sowie die Nordbatschka, und schließlich drittens Westungarn. Die Linguistinnen gingen zunächst auf die Makrostruktur des Wörterbuchs ein (mit allgemeinen und spezifischen Merkmalen der Mundarten), darauf folgten Angaben bezüglich der Mikrostruktur (Aufbau der Wortartikel). Eine anschauliche PowerPoint-Präsentation brachte verschiedene Lemmatypen, die schon ausgearbeitet wurden. Müller betonte, dass die Sammelphase für dieses Wörterbuch noch nicht abgeschlossen ist.

Sigrid Haldenwang, Leiterin des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs am Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften, Hermannstadt/Sibiu, ging davon aus, dass dieses Wörterbuch das bedeutendste Werk siebenbürgisch-sächsischer Sprachgeschichte ist, da es das Wortgut der Siebenbürger Sachsen in seiner Vielfalt dokumentiert. Das Referat „Gestaltung der Wortartikel im Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch (SSWB) mit Berücksichtigung diachronischer Aspekte“ umfasste Erläuterungen zum siebenbürgisch-sächsischen Dialekt; Themenbereiche, die das Wörterbuch berücksichtigt; Grundsätzliches zur Bearbeitung der Wortartikel aus methodischer Sicht; diachronische Aspekte u. a. Das ganze Konzept wurde in einer PowerPoint-Präsentation gebracht mit anschaulichen Musterbeispielen.

Ermenegildo Bidese von der Philosophie- und Theologiehochschule Brixen der Universität Verona ist Zimber und beherrscht diese Varietät des Deutschen in Wort und Schrift. Als Linguist, Philosoph und Theologe hat er ein umfangreiches Betätigungsfeld. Der Referent führte zunächst Wortschatzsammlungen der zimbrischen Tradition an und deutete darauf hin, dass die historischen zimbrischen Sprachgebiete in Norditalien, Verona und Vizenza liegen. Das Zimbrische wird seit über 400 Jahren als Schrift- und Hochsprache gepflegt und bis heute noch gesprochen. 1602 erscheint der „Zimbrische Katechismus“ und aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind eine Grammatik und eine Wortschatzsammlung des Zimbrischen als „sprachpflegerische und sprachfördernde Werke“ bezeugt.

Von großer Bedeutung sind die Notizen des bayrischen Sprachforschers Andreas Schmeller (1785–1852), der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Jahre 1833, zu den Zimbern reiste. Sein Weg führte ihn über Pergine in die Valsugana, wo er Gelegenheit hatte, methodisch Dialektaufnahmen in den noch Deutsch sprechenden Berggemeinden Vignola, Fierozzo und Frassilongo zu machen. Seine handschriftlichen Aufzeichnungen (27 Seiten in einem Notizheft) werden in der „Bayrischen Staatsbibliothek“ in München in der Sammlung „Schmellerina“ aufbewahrt. Daraus sind bis heute nur die Ortsnamen bearbeitet worden. Letztlich berichtete Bidese, dass die reichhaltige lexikografische Tradition aus verschiedenen Epochen der Sprache von gestern und heute zu dem Konzept eines modernen Wörterbuchs geführt hat, dem sogenannten „Neuen Zimbarbort“ (Zimberwörterbuch), das den Wortschatz des Zimbrischen aus Lusern (in den süd-trentinischen Alpen gelegen) aus diatopischer und diachronischer Sicht behandeln soll. Wenn man fragt für wen?, soll die einfache Antwort lauten: „Als eine Chance, um die sprechende Gemeinde zusammenzubringen“.

Silvia Dal Negro unterrichtet an der „Freien Universität Bozen“ im Fachbereich Germanistik und Romanistik. In ihren Ausführungen ging die Linguistin auf gefährdete Sprachinseln außerhalb des deutschen geschlossenen Sprachraums näher ein. Ihre lexikalische Dokumentation war den walserischen und zimbrischen Sprachinseln (Lusern und in einigen Gemeinden des Fersentals, beide zu der Provinz Trient gehörend) gewidmet, wo sie dem noch gesprochenen deutschen Dialekt nachgegangen ist. Anschließend brachte sie Sprachkarten, mit einem farbigen Vermerk der erforschten Gemeinden.

Ernesto Liesch, Generaldirektor des Konsortiums der „Universität Friaul“, erläuterte Wesentliches zu dem vor Kurzem in digitaler Erfassung erschienenen „Italienisch-Zahrer Wörterbuch“, das an der Universität Friaul erarbeitet wurde, und veranschaulichte einige Beispiele daraus in einer PowerPoint-Präsentation. Es muss betont werden, dass die italienische Sprache das Zahrer Deutsch stark beeinflusst, besonders ist das augenfällig bei der Übernahme von Lehnwörtern, wobei es meist um gehobenen bzw. nicht unmittelbar der bäuerlichen Lebensphäre entnommenen Wortschatz geht. Für das Wörterbuch mussten sieben grafische Systeme mit verschiedenen Zeichen verwendet werden, um die Wörter in der Zahrer Sprache, auf Standarddeutsch, auf Italienisch und in Lautschrift sowie die Zitate in den verschiedenen Dialekten und in den etymologischen Angaben darzustellen. Nach Liesch beschränkt sich die Bedeutung dieses so komplexen Wörterbuchs nicht nur auf praktische und dokumentarische Aspekte, es eignet sich auch als bedeutendes Studien- und Forschungsinstrument für Spezialisten der historischen Linguistik, insbesondere für Wissenschaftler der Bereiche Germanistik und Romanistik in ihren verschiedenen Fachrichtungen, beginnend bei der Soziolinguistik.

Den Referaten folgten lebhafte, interessante Diskussionen, Fragen und zusätzliche Erläuterungen. Die Antwort auf das gestellte Rahmenthema: „Sprachinselwörterbücher: für wen?“ konnte beantwortet werden. Wie ersichtlich, gibt es Ansätze für das Erstellen von Sprachinselwörterbüchern und auch bereits vorliegende Sprachinselwörterbücher, die im Untergang begriffene deutsche Mundarten außerhalb des deutschen geschlossenen Sprachraums nicht nur für die noch bestehenden kleinen Sprachgemeinschaften selbst oder für wissenschaftliche Zwecke, sondern auch überhaupt für die Nachwelt dokumentieren.