Dichtertal

Else Lasker-Schüler lebt in Gedichten

Hajo Jahn „Die Facetten des Prinzen Jussuf“ Ein Lesebuch über Else Lasker-Schüler, PalmArtPress, Berlin 2022, 187 Seiten

„Der eigentliche Mittelpunkt alles Pietismus und Mystizismus ist aber die reformierte Gemeinde in Elberfeld. Von jeher zeichnete sie sich durch streng calvinistischen Geist aus, der in den letzten Jahren durch die Anstellung der bigottesten Prediger – jetzt wirtschaften ihrer vieren zugleich dort – zur schroffsten Intoleranz geworden ist und dem papistischen Sinn wenig nachsteht. (…) Kommt gar einer, der die Prädestination nicht glaubt, so heißt`s gleich: der ist beinahe so schlimm als ein Lutheraner, ein Lutheraner ist nicht viel besser als ein Katholik, ein Katholik oder Götzenanbeter ist aber von Natur verdammt.“ Das sind harte Sätze. Ferne Vergangenheit? Geschrieben wurden sie von Friedrich Engels im Jahre 1839 und gesammelt in den „Briefen aus dem Wuppertal“. Erst 1929 fanden die Städte Barmen und Elberfeld zusammen, erst im Doppel-namen, dann im Neuwort „Wuppertal“. Der Pietismus hat die Städte an den Wupper geprägt; er war der Motor für die mittelständische Industrie in vielen Bereichen, besonders in der Eisen- und Metallverarbeitung, der Textilherstellung (Bandwebereien), der Färbereien („Türkischrot“) und dann der Chemie (die Bayer-Werke wurden am 1. August 1863 vom Kaufmann Friedrich Bayer und dem Färber Johann Friedrich Weskott in Barmen gegründet). Das calvinistische Denken bestimmte die „Fabrikherren“, die Arbeiterschaft in der Preußischen Rheinprovinz duckte, die Kinderarbeit blieb bis 1839.

Mentalitäten leben fort, oft unbewusst. Auch das Aufbegehren dagegen. In die von Engels so trefflich als „Muckertal“ benannte Wiege der Frühindustrialiserung wurde am 11. Februar 1869 Elisabeth Schüler geboren von ihrer Mutter Janette, geborene Kissing. Der Vater von ins-gesamt sechs Kindern war Aron Schüler, der sich als Privatbankier einen Namen machte, wie viele im Tal, wie die Wichelhaus, von der Heydt und Kersten.

Zur Welt kam Elisabeth, die Else genannt wurde, in der Elberfelder Herzogstraße 29. Sie wurde zu Else Lasker-Schüler, die Dichterin, die ihre Welt aus dem Tal der Wupper und den Sprachwelten des Talmuds in Gedichten, in Prosa und Theaterstücken einfing. Eine deutsche Poetin, die Deutschland und uns Deutschen nah sein müsste, ist ihr Leben und Werk doch so tief von der Geschichte durchzogen, welche die unsrige ist. Meist wird sie als deutsch-jüdische Dichterin wahrgenommen, dies marginalisiert und führt aus dem künstlerischen Erfahren und Lesen fort. Ihre Poetensprache war deutsch und damit hat sie das Sprachland Deutschland in eine lichte Höhe geführt, wie wenige vor ihr und nicht viele nach ihr. Und auch diejenigen, die wie sie einen eigenen Dichterkosmos hatten und haben, wie Rose Ausländer, Paul Celan, Nelly Sachs, Hilde Domin, Hertha Kräftner sowie Gottfried Benn, Rainer Maria Rilke, Peter Huchel, Reiner Kunze oder (aus Rumänien) Herta Müller, Rolf Bossert und Richard Wagner sollten werkimmanent und literaturästhetisch wahrgenommen und nicht in Bindestrich-Kästchen – weder religiös noch regional – segmentiert werden. Deutsch ist das Dach für alle, gleichgültig, aus welchen Staaten, Regionen oder Erfahrungen die Autoren kommen. Die Schatzkammer allen Schreibens ist immer die Biographie, die eigene und die von anderen. Lebenserfahrungen legen die Gleise ins künstlerisch ambitionierte Textverfassen.

Else Lasker-Schüler lebt, ihre Dichtung wird immer noch gelesen, die Gedichte werden immer weiter vertont. Und all dies wird eingefasst in die Kultur- und Zeitgeschichte, die sich mit ihren Leben und Werk verbindet. Dass dies so ist, verdanken die Stadt an der Wupper und in zahlreichen Städten Deutschland und in Europa dem ewig umtriebigen und kompetenten WDR-Journalisten, Veranstalter, Antreiber und Quälgeist Hajo Jahn. Er ist natürlich kein bergischer Pietist, aber der Wunsch, ja, der Eifer, die Welt zu erwecken und mit den Schönheiten der Gedichte zu befassen, kommt nun doch aus der bergischen Metropole. Jahn hat in der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, inzwischen auf über 1200 Mitglieder angewachsen, sein Lebensmodell gefunden, für das er arbeitet und wirbt, ja auch umwirbt wie eine Geliebte. Gegründet wurde die Else-Gesellschaft 1990 von einem guten Dutzend Bürgern aus Wuppertal, ein Verein ist nun mal eine juristische Person, die sich aus vielen zusammensetzt. Aber der ehemalige Leiter des WDR-Studios Wuppertal ist sich sicher, er allein habe gegründet, was metaphorisch Lasker-Schüler ihm gerne zugesprochen hätte. Was der nunmehr 81-jährige unruhige Geist auf die Beine gestellt hat an internationalen Literatur-Foren, ob in Deutschland, Israel, Tschechien, Österreich, Italien oder Frankreich ist phänomenal, die Almanache, Handbücher, Streitschriften, Eingaben und Presseerklärungen sind kaum zu zählen. Und alles hat Hand und Fuß, korreliert zum hohen Ton der Dichtung der Lasker-Schüler und anderer Dichter und nimmt mit Kenntnis und Emphase die abgründige deutschen Zeitgeschichte wahr. Hajo Jahn hat Sprache, Kenntnis und Niveau. Nicht alles hat Erfolg, die Bergische Universität heißt immer noch nicht „Else- Lasker-Schüler-Universität“, und auch kein Bahnhof der Schwebebahn trägt den Namen von Prinz Jussuf, auch kein städtischer Preis trägt den Namen der Dichterin. Die Herrscherin der Verse bleibt in ihren Büchern.

Wer noch Novize dieser Heimwärts-Dichtung, der sinnlichen Sprache des schwarzen Schwans Israels (Peter Hille) noch nicht nähergekommen ist, hat nun Gelegenheit, sich in den Sog der Verse hineinziehen zu lassen. Der Else-Liebende Hajo Jahn hat es geschrieben, wunderbar gestaltet vom Berliner Verlag Palm ArtPress, der umsichtig von Catharine Nicely gesteuert wird. Das Buch ist eine Augenweide und entfaltet die Lasker-Schüler-Welten entsprechend einer Artikelserie, die Jahn in der Westdeutschen Zeitung (WZ) geschrieben hatte, ergänzt von Fotos und Zeichnungen der Lyrikerin.

Sympathisch, dass auch ein solches Buch, das einen nur hinreißen kann, etwas richtig stellen muss durch einen eingelegten Zettel, der die bedrängte Schulzeit der kleinen Else richtigstellt: sie ging eben nicht in eine Volksschule, sondern in die Höhere Städtische Töchterschule, die im Volksmund „Schornstein-Schule“ genannt wurde und zu der Else schrieb: „Der Direktor Schornstein kam nämlich auch immer so unverhofft in die Klasse mit der Tabakspfeife im Munde, um zu kontrollieren. Mir fielen die endlich kapierten Rechenaufgaben wieder in den Magen zurück, und ich schluckte und schluchzte, und ich kam in die Ecke.“ Schlucken und schluchzen können auch ihre großen Gedichte. Hier liegen die Seelengründe. Was sie in der bedeutenden Anthologie von 1919 „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Pinthus als biographische Notiz geschrieben hatte, ist alles Inszenierung, eine Robinsonade wie ihr ganzes Leben. Sie suchte sich eine Außenwelt im Traum, im Orientalischen, so in Märchenerfindungen wie in der von Prinz Jussuf von Theben. Und auch ihr Jüdisch-sein diente zur Auskleidung der Versewelten. Ihr Unbehaustsein ist überall spürbar und in biblischen Figuren verborgen. Das große Gedicht „Mein Volk“ ist für mich ein Text, der das Novalis nahe Nach-Hause-suchen einfängt und nicht das Volk Israels meint. Gedicht und Gebet waren ihr immer verschwistert, auch und be-sonders im Liebesgedicht.

„Mutterliebe ist eine Leidenschaft, die ihre eigene Gewalt und Größe hat, ihre Übertreibungen und sogar ihre Sinnlichkeit“, das klingt so ganz nach Lasker-Schüler, ist aber von einer anderen Lyrikerin, die sich in der Sinnenwelt Rumäniens aufhielt, nämlich von der dichtenden Königin Elisabeth von Rumänien, die als Carmen Sylva (1843-1916) bekannt wurde. Die Sorge um Paul, Lasker-Schülers Sohn, dessen Vater nie entschlüsselt wurde, war überschäumend und letztlich erfolglos, er flog von Schule zu Schule, war der Dichterin eher ein unruhiges Gedicht, denn alles geriet ihr ins Uneigentliche, wurde zur Sprache. So wie Hilde Domin betrauerte, nicht Mutter geworden zu sein und ihre Gedichte als ihre Kinder betrachtete, so war es auch bei der Elberfelderin: Gedichte sind Kinder, die einem nur kurz gehören.

Bert Brecht wird zuweilen vorgeworfen, er habe die Frauen, seine zahllosen Liebschaften, ausgenutzt, quasi benutzt, um daraus Themen und Sinnlichkeiten für seine Texte zu beziehen. Else Lasker-Schüler war (auch) immer verliebt und hat sicherlich mehr und bessere erotische Gedichte geschrieben als der Mann aus Augsburg. Die überwiegend einseitige Liebesgeschichte zu Gottfried Benn hat schöne Verse hervorgebracht, die mehr ihr als ihm ein Denkmal setzen.

All das schlüsselt Hajo Jahn mit Daten, Namen und Fakten auf, ohne Fußnotengräber, sondern als Journalist, der sich begeistern lässt und mitnehmen will in seine Welt. Das gelingt vortrefflich. Chapeau! Else Lasker-Schüler ist am 22. Januar 1945 in der Stadt der Städte, in Jerusalem von uns gegangen. Aber ihre Gedichte leben weiter, sehnsüchtig nach Leben und Lieben. Wie wir.