Die Familie als Quelle allen Unheils und Heils

Adrian Sitarus preisgekröntes Werk „Illegitim“ in den rumänischen Kinos

Szene aus Adrian Sitarus Film „Illegitim“

Bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin im Februar dieses Jahres hat das jüngste Werk des rumänischen Filmregisseurs und Schauspielers Adrian Sitaru eine wichtige Auszeichnung erhalten, zwar keinen Preis der offiziellen Jurys, die die Goldenen, Silbernen und Gläsernen Bären vergeben, aber dennoch eine wertvolle Auszeichnung der unabhängigen Jurys, nämlich den Forum-Preis des Internationalen Verbandes der Filmkunsttheater CICAE.Der Titel des Films „Ilegitim“ (Illegitim) bezieht sich nicht nur vordergründig auf das Thema des Inzests, das in diesem Streifen behandelt wird, sondern lotet zudem eine Fülle weiterer Themen aus, die den Widerstreit von Legalität und Legitimität in einem weiteren gesellschaftlichen und politischen Horizont provokatorisch sichtbar machen.

Die rumänische Vergangenheitsbewältigung spielt in „Illegitim“ eine wichtige Rolle, ganz konkret exemplifiziert an der Frage, ob es legitim war, dass der Arzt und Familienvater Victor Anghelescu (Adrian Titieni) während der Jahre des Ceauşescu-Regimes Frauen, die abtreiben wollten und somit gegen damals geltende Gesetze zu verstoßen beabsichtigten, bei der Securitate denunziert hat. Die Frage der Abtreibung gewinnt dann im Film eine besondere Brisanz, weil die jüngste Tochter der Anghelescus, die 22-jährige Sascha (Alina Grigore), von ihrem Zwillingsbruder Romeo (Robi Urs) schwanger geworden ist und die Leibesfrucht abtreiben möchte. Schließlich wird der Tabubruch des Inzests nicht als souveräner, autonomer, eigenverantwortlich gewollter und einvernehmlich vollzogener Akt inszeniert, vielmehr wird er in „Illegitim“ in die Nähe des sexuellen Missbrauchs im familiären Bereich gerückt.

Überhaupt wird die Familie in Adrian Sitarus Film als Ort geschildert, den man mythologisch nur als Büchse der Pandora bezeichnen kann. Ödipale Konflikte, etwa zwischen dem Vater Victor und dem ältesten Sohn Cosma (Bogdan Albulescu), brechen vulkanisch auf und arten in Schlägereien im Familienkreis aus. Der allenthalben spürbare Verlust der anderthalb Jahre zuvor an Krebs gestorbenen Mutter Anghelescu hat psychologisch fatale Auswirkungen auf die einzelnen Familienmitglieder: Die älteste Tochter Gilda (Cristina Olteanu) schlüpft stellvertretend in die Rolle der toten Mutter und opfert ihr eigenes Leben dem selbst gewählten Schattendasein, Romeo hingegen sucht den ödipalen Mutterersatz in seiner Schwester.

Der Wunsch nach Vatertötung, Inzest, Tabubruch, das ganze Schreckensszenario aus Freuds „Totem und Tabu“ – hier in Adrian Sitarus Film wird’s Ereignis.Dynamik und Intensität sind also in diesem Film garantiert, der von Anbeginn gleich ins Volle greift. Ein zunächst harmlos scheinendes Mittagessen, bei dem Victor Anghelescu als Patriarch den Vorsitz führt und salbungsvoll über die Zeit philosophiert, schlägt plötzlich um in eine von den erwachsenen Kindern vehement vorgetragene soziopolitische Anklage und Verurteilung der Vätergeneration, die die Ceauşescu-Diktatur durch ihr opportunistisches Mitläuferverhalten gestützt und am Leben erhalten hat – eine wilde Abrechnung, die man im rumänischen Film (und in der rumänischen Gesellschaft) so noch nicht gesehen und erlebt hat.

Die Fülle der angerissenen Themen, die dem Film „Illegitim“ emotionale Durchschlagskraft verleihen, führt auf der anderen Seite aber auch zur zunehmenden Verundeutlichung seiner Gesamtaussage. Ist „Illegitim“ ein Lehrstück über die Wandlung des Vaters vom Abtreibungsgegner zum Befürworter der Abtreibung und dann wieder zurück zum Abtreibungsgegner? Ist „Illegitim“ eine Parabel über die Entwicklung des linientreuen Jasagers zum gesellschaftskritischen Neinsager? Ist Adrian Sitarus Film ein Pamphlet, das eine Lanze für den Inzest brechen will, der etwa in Deutschland nach § 173 StGB strafbar ist, während beispielsweise in Frankreich der Inzest unter Erwachsenen nicht unter Strafe gestellt wird? Oder setzt der Film zum Angriff auf die rumänische Vätergeneration an, die ihr eigenes Versagen nach wie vor durch patriarchalisches Machtgehabe kaschiert? Oder inkriminiert der Film gar die Familie als solche, indem er sie zum psychopathologischen Infektionsherd und zur Brutstätte allen Übels erklärt?

Hier macht sich eben doch das Fehlen eines gut durchgearbeiteten Drehbuches störend bemerkbar, denn die beiden Drehbuchautoren, der Regisseur Adrian Sitaru und seine Hauptdarstellerin Alina Grigore, haben ihren eigenen Ideen und Gedanken, aber auch denen der am Film beteiligten Schauspieler freien Lauf gelassen, was zweifellos zu zahlreichen Filmszenen von höchster Authentizität geführt hat, bildtechnisch noch unterstrichen durch die sich ins Getümmel mischende Handkamera, was aber letztlich zu Lasten eines überzeugenden und vor allem konsequent an der Realität orientierten Plots gehen musste. Wie kann es sein, dass die beiden Mediziner der Familie, der Vater und der älteste Sohn, in ihren Gesprächen mit Sascha zu keinem Zeitpunkt die Gefahr genetischer Fehlbildungen bei dem durch Inzest entstandenen Fötus erwähnen?

Wie glaubwürdig ist die Hauptgestalt Sascha selbst, die einerseits als hochintelligente und intellektuell selbstständige junge Frau, andererseits wiederum als armes hilfloses Hascherl gezeichnet wird, das sich der Avancen des Zwillingsbruders nicht erwehren kann, das mit ihm zusammen immer wieder psychisch regrediert (eklatant etwa bei dem debil wirkenden Tablet-Spiel zur Musik von Beethovens Mondscheinsonate), am Ende aber als schwangere Madonna der unbefleckten Empfängnis die Erlösung der heiligen Familie garantieren soll, jenseits von Staat und Gesellschaft? Solche Zumutungen der Filmhandlung, die zudem entschieden dem realistischen Anspruch der im Film verwendeten Audio- und Videotechnik zuwiderlaufen, machen „Illegitim“ zu einem kinematografischen Werk, dessen Provokationen letztlich ins Leere gehen, dessen unkonventionelles Potenzial am Ende wirkungslos und wirklichkeitsfremd verpufft.

Der Glaube an ein erlösendes und errettendes Wunder des Lebens, wie ihn auch der kürzlich in die rumänischen Kinos gekommene Film Ruxandra Zenides „Miracolul din Tekir“ (Das Wunder von Tekir) zelebrierte, bedient eben ein anderes, nämlich religiöses Register, das die Welt, die man nicht fassen konnte, durch einen Deus ex machina erklärbar macht.
Nicht von ungefähr kehrt der Vater Anghelescu bei dem Familientreffen am Ende des Films wieder zu dem Thema zurück, das er ganz zu Beginn anschlug: zum Thema der Zeit, die – um es mit Voltaire zu formulieren – alle Wunden heilt. Der Glaube an die Zeit fungiert dabei als die säkulare Variante jenes religiösen Wunderglaubens. Ihrem „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ hat Adrian Sitarus preisgekrönter Film zu einem modernen, zeitgenössischen Ausdruck verholfen.