Die ganze Stadt als Bühne

Eine Nachlese zum 20. Internationalen Theaterfestival Hermannstadt

Hermannstadt wird zur Kulisse für die open-air-Vorstellungen.

Einen schaurig-heiteren Totentanz zeigten die von Frank Soehnle (r.) geführten Skelette.

Zeitgenössischen Tanz bot u.a. die belgische Truppe „Thor“
Fotos: Sebastian Marcovici

Hermannstadt/Sibiu war eine Bühne. Seit nunmehr zwanzig Jahren verwandelt sich die Stadt und ihre Umgebung Anfang Juni in die Kulisse für das wohl vielseitigste Kulturevent Rumäniens: das Internationale Theaterfestival. Diesen Namen trägt die Megaveranstaltung, es ist jedoch ein Fest der Kunst und Kultur. Musik erklingt in den Kirchen und Straßen, in letzteren werden aber auch Theater- und Zirkusvorführungen geboten; alle zur Verfügung stehenden Säle bersten vor Zuschauern und reichen nicht aus, sodass Sportsäle oder die Burg in Michelsberg/Cisnădie ebenfalls genutzt werden und die ehemalige Werkhalle der Balanţa-Fabrik sowieso.

Ausstellungen sind in hierfür geeigneten Räumen zu sehen aber auch an der Lügenbrücke, Workshops werden in Cafés und Museumsräumen gehalten, Buchpräsentationen in der Humanitas-Buchhandlung oder im Habitus-Kulturzentrum, wo dann auch Konferenzen namhafter Kulturleute stattfinden. So geschah es auch in diesem Jahr zwischen dem 6. und 16. Juni bei der 20-jährigen Jubiläumsausgabe des Kulturfestes. Die Vielzahl der Angebote wurde und wird von einem zahlreichen Publikum wahrgenommen. Am Wochenende hatte man nachmittags Mühe, sich durch die Fußgängerzone zu schlängeln und abends über den Großen Ring/Piaţa Mare zu gehen, der 700 Personen fassende Saal des Gewerkschaftskulturhauses war jeden Abend voll besetzt. Zum Theaterfestival gehen längst nicht bloß Hermannstädter und Festivalgäste sondern kommen auch Leute aus entfernten Ortschaften.

Geschafft hat es die Verfasserin dieser Zeilen heuer zu weitaus weniger Vorstellungen als in anderen Jahren, beigewohnt hat sie sehr guten, guten und mittelmäßigen Darbietungen aus den Bereichen Theater und Tanz. Konzerte wurden links liegen gelassen, genauso wie Vorstellungen in Japanisch, Polnisch oder Französisch, selbst wenn Polen und Frankreich heuer mit einem Focus-Programm präsent waren. In der Nachlese nicht erwähnt werden die zum Teil sehr guten Open-Air-Veranstaltungen.

Der zeitgenössische Tanz gehört insbesondere seit dem Kulturhauptstadtjahr Hermannstadts ins Programm des Festivals. Am ersten Abend der diesjährigen Ausgabe konnten die Zuschauer die Ballettkonzeption der berühmten deutschen Choreografin Sasha Waltz kennenlernen, an den vorletzten beiden Tagen tanzten Ensembles aus Israel. „Das dunkle Märchen“ von Yossi Berg & Oded Graf Dance Theatre gefiel nur in Passagen, hingegen war „Kmehin“ (Trüffel) der Kolben Dance Company großartig. Getanzt wurde eine in sich geschlossene und wunderbar mittels Musik und Tanz auf die Bühne gebrachte Reflexion über das Essen und seine Rituale. Von den weiteren Tanzvorstellungen konnte ich die einfallsreich-spritzige „Persistence of Losers“ der tschechischen DekkaDancers in der Choreografie von Tom Rychetski sehen sowie die anfangs sehr trist-dusteren „Clear Tears, troubled Waters“ der sieben Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Thor aus Belgien.

An deutschen Bühnen waren heuer – außer dem Deutschen Staatstheater Temeswar/Timişoara mit zwei Vorstellungen der „Möwe“ in der Regie von Juri Kordonsky – das Figuren Theater Tübingen und das Hessische Landestheater aus Marburg zu Gast. Das „Salto Lamento“ (oder Totentanz) der erstgenannten war eine großartige Marionettendarbietung von Frank Soehnle zu der live-Musik des Duos „rat’n’X“. Der Tanz der großen und kleinen Skelette war gruslig und verleitete dennoch zum Schmunzeln. Erneut zum Festival kamen und eine gute schauspielerische und musikalische Leistung boten die vier Darsteller des Hessischen Landestheaters in „Das Urteil und andere Erzählungen”. Eva Bormann und Regisseur Max Merker hatten darin Teile aus der Kafka-Erzählung im Titel sowie weiteren zwei – „Die Verwandlung“ und „Der Heizer“ -  dramaturgisch bearbeitet, ließen das Absurde jedoch stellenweise zu sehr ins Witzig-Triviale abgleiten.

Zum Theater

Großer Andrang herrschte in den vergangenen Jahren stets bei Vorstellungen von Ensembles bekannter Bühnen aus Bukarest, Craiova, Jassy/Iaşi oder Piatra Neamţ. Dergleichen waren heuer nicht vertreten, bloß Projektevon kleinen, alternativen Bukarester Bühnen. Eine klassische Inszenierung von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ bot das Bukarester Godot-Theater, zwei der Darsteller – Florina Gleznea und Ionuţ Grama – waren 2009 für den Uniter-Preis für das beste Debüt nominiert worden, und zwar zu Recht. Was Bühnenpräsenz und Ausstrahlung bedeutet, bewiesen Vlad Zamfirescu, Irina Velcescu, Diana Cavaliotti und Andi Vasluianu in „Illusionen“, dem inzwischen auf mehreren Bühnen Europas gespielten Stück des russischen Schauspielers Iwan Wyrypajew in der Regie von Cristi Juncu, produziert vom Act-Theater und dem Verein Catharsis.

Die vier Schauspieler saßen während der eineinhalbstündigen Vorstellung auf einer Bank auf der Bühne (des Gong-Theaters), sprachen, gestikulierten und bezogen das Publikum in die Monologe ein. Dasselbe Stück hätte auch in russischer Originalvariante in der Regie seines Autors gesehen werden können, allein, die Vorstellung begann um 23 Uhr, für Leute, die am nächsten Morgen in der Arbeit fit sein sollen, etwas spät. Ein weiteres Bukarester Underground-Theater ist „LUNI“, das in Kooperation mit „Compagnie 28“ unter dem Titel „DONTCRYBABY” anhand des Grimm’schen „Rotkäppchen“ Zustände der zeitgenössischen rumänischen Gesellschaft wunderbar ironisiert.

Das „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ konnte in Hermannstadt vor einigen Jahren von Samuel Finzi (an der Freien Volksbühne Berlin inszeniert) gespielt und danach von Wolfgang Kandler in einer Produktion des Radu-Stanca-Theaters dargestellt gesehen werden. Zum Festival kam nun die von Felix Alexa in „Arcub“ auf die Bühne gebrachte Version mit Marius Manole. Gespielt hat auch Manole den Poprischtschin großartig und die schrille Geigenbegleitung von Alexander Bălănescu machte sich nicht schlecht. Diese Vorstellung gab es nur einmal in dem doch recht kleinen Thalia-Saal, entsprechend war der Kampf für ein Ticket.

Vorschusslorbeeren hatte es für Tschechows „Die Hochzeit“ des Janka-Kupala-Theaters Minsk und des Internationalen Tschechow-Theaterfestivals gegeben und sie wurde zweimal vor vollbesetztem Gewerkschaftskulturhaussaal gespielt. Für die moderne Festival-Produktion war der Text auf ein Minimum reduziert, die Handlung aber sehr suggestiv durch Tanz und Musik ergänzt. Insgesamt eine eigenwillige, zuweilen an Zholdak und Purcărete erinnernde, aber sehr gute Vorstellung.

Das diesjährige Festival war bestimmt nicht das beste seiner 20-jährigen Geschichte. Dennoch kann es jedem leid tun, der nicht mindestens einige Tage miterlebt hat. 

Zum dritten Mal strichelte der bekannte Künstler Dan Perjovschi heuer seine sozial- und politikkritischen Statements auf die weiße Wand des Theaterzauns und bot dazu eine Führung. Thematisiert hat er u.a. die Entscheidung von Kommunen, Geld an Kultur oder Fußball zu vergeben. Am Großen Ring kommen genauso viele Leute zusammen wie in einem Stadion, Künstler seien aber immer noch billiger als Fußballer, meinte er. Hermannstadt lässt sich das Theaterfestival und die anderen Kulturevents viel kosten, die dadurch für die Bevölkerung zugänglich sind.