Die Stadt von unerhörter Eleganz – das jüdische Temeswar

Zu: Getta Neumann – „Auf den Spuren des jüdischen Temeswar. Mehr als ein Stadtführer“

Getta Neumann – „Auf den Spuren des jüdischen Temeswar. Mehr als ein Stadtführer“; aus dem Rumänischen von Werner Kremm; Schiller-Verlag, Hermannstadt-Bonn, 2021, 288 Seiten, 978-3-946954-92-7 (ISBN), 17,90 Euro

Einwohner verschiedener Kulturen haben die Banater Hauptstadt Temeswar im Lauf der Jahrhunderte zu der Stadt gemacht, die sie heute ist. Die Spuren der Mitbürger verschiedener Nationalitäten und Konfessionen, vor allem aber der jüdischen, sind überall auffindbar. Ein Stadtführer jüdischen Lebens und der Geschichte Temeswars war somit nur selbstverständlich. Diesen hat Getta Neumann, Tochter des Oberrabbiners Ernest Neumann, in akribischer Recherche und Dokumentation erstellt und im Schiller Verlag, Bonn-Hermannstadt 2021 herausgegeben. Das Buch mit dem Untertitel: „Mehr als ein Stadtführer“, als Reiseführer „Auf den Spuren des jüdischen Temeswar“, in der fabelhaften Übersetzung des aus dem Banat stammenden Journalisten und Schriftstellers Werner Kremm, erinnerte mich an den Spruch der in Temeswar geborenen Ana Blandiana: „Wir waren ein anderes Volk“ schrieb sie in der FAZ. am 28. Dezember 2013. Auch dieses Reisebuch zeugt davon, dass jenes Temeswar eine „andere Stadt mit einem anderen Volk“ war. 

Temeswar ist Prunk und Pracht, Leben und Lust. Die Stadt hat ein barockes Gemüt und ein reiches Jugendstil-Dekor an Fassaden und Innenräumen. Viele Fassaden sind verziert, bevölkert von Löwen, Hähnen, Pfauen, Barockfiguren, Musen und Putten, Stuck und Säulen. Temeswar hat vieles, wovon die meisten Städte träumen und ist größtenteils noch unentdeckt. Die bei Genf lebende Getta Neumann hat ihren 2019 im Brumar-Verlag auf Rumänisch erschienenen Reiseführer aktualisiert und umfassend erweitert und in enger Zusammenarbeit mit Werner Kremm herausgebracht. Auf der Umschlagseite steht, dass die „Suche nach sichtbaren und unsichtbaren Spuren der Existenz der Juden in Temeswar“ ein fortlaufender Prozess sei und Anregungen und Verbesserungen willkommen sind. Aktualisierungen und Ergänzungen sind vorstellbar: der Aufruf gilt für 2023, wenn Temeswar Kulturhauptstadt wird und die Stadt im Mittelpunkt des Interesses steht.

Getta Neumann hat uns mit dem Buch den Blick erweitert auf eine Stadt, deren Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Musik und Literatur stark geprägt ist von seinen jüdischen Einwohnern. Dieser Blick auf die Geschichte der Juden wird hier nicht eingeengt auf die 12 Jahre Leiden in der Naziherrschaft, auf die sie oft reduziert wird, sondern ist verknüpft mit der Geschichte dieser Stadt. Dieser Blick geht in die Tiefe.

Bis heute hat dieses Temeswar, geprägt von zahlreichen Kulturen und Völkern, seinen Wohlstand und seine Vorrangstellung als einzigartige Stadt Rumäniens – nach und mit Bukarest und Klausenburg – mit einer der stärksten ökonomischen Entwicklungen, nicht nur seiner Lage im Westen des Landes zu verdanken, sondern vor allem dem Elan und Ehrgeiz vieler Bürger.

In der Einführung unterstreicht Neumann, dass in der wechselhaften Geschichte der Stadt, die als „Klein Wien“ oder als „Stadt der Rosen“ bekannt ist, mehr als drei Jahrhunderte lang, Deutsch die offizielle Sprache war. Ein Temeswarer Spezifikum ist der „Geist der Offenheit und Toleranz“. Es ist nicht nur pure Nostalgie, wenn man die barocke Patina der Stadt hervorhebt, die protzigen Paläste im Sezessionsstil, die zahlreichen Parks, das dreisprachige Theater und vieles andere. So steht hier seit 1718 die älteste Bierbrauerei Rumäniens, 1899 fuhr die erste elektrische Straßenbahn, die erste Straßenbeleuchtung erfolgte 1884. Die Stadtstruktur ist streng durchstrukturiert dank unterschiedlicher Verwaltungen: osmanische, habsburgische, österrei-chisch-ungarische und rumänische. Die erste deutschsprachige Tageszeitung erschien 1852. Die Vitalität und Kreativität der Stadt haben bis heute nichts eingebüßt. 1989 ging von der Temeswarer „gelben Mauer“ die Rumänische Revolution aus. Und 2020 wurde der deutsche Staatsbürger Dominik Fritz als Bürgermeister – ein in der EU bisher einmaliges Ereignis   - von den Temeswarer Bürgern in sein Amt gewählt. Die Autorin hat nicht nur das jüdische Leben der Stadt von seinen Anfängen bis heute dokumentiert, sondern auch jüdische Traditionen und Bräuche erklärt, jüdische Rezepte notiert und prägende Persönlichkeiten porträtiert. Drei Gruppen jüdischen Glaubens waren in Temeswar vertreten: sephardische, aschkenasische und neologische Juden. 

17 jüdische Architekten werden aufgezählt, die Bauherrn zahlreicher Paläste und Villen, der Synagogen, Schulen, Hochschulen und Firmen waren. Bekannte Musiker wie Ioan Holländer, Magda Kardos (Schülerin von Bela Bartok), Ferdinand Weiss, Jenö Weisz, György Kurtág und Ervin Junger (Komponisten), Leo Freund (Konzertpianist), Gabriel Banat (Musikwissenschaftler und Geiger), Ervin Acél (Dirigent), Max Eisikovits (jiddischer Folklorist), Charles Bruck u. Laszlo Gati (Dirigenten), um nur einige zu nennen, wirkten hier und gingen von hier aus in die Welt. Schriftsteller wie Peter Freund, Josef Kalwo, Gabor Steiner und Gheorghe Turcu (Regisseur), Historiker, Maler, Bildhauer, Philologen, Ärzte, Fabrikanten, Mathematiker, Publizisten oder Sportler, die Rabbiner Temeswars – sie alle trugen den Ruhm ihrer Stadt in die Welt hinaus. Nicht vorzustellen – wären diese Menschen nicht gezwungen worden, ihre Stadt aus politischen Gründen zu verlassen und in der Ferne eine neue Heimat zu suchen - wie Temeswar heute aussehen könnte. 

Der Stadtführer in zehn Kapiteln richtet sich nicht vorrangig an interessierte Kulturtouristen, sondern an alle, die diese Banater Metropole neu entdecken möchten, bereit sind, sie aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ein jüngeres, konsumfreudiges Publikum wird sich an den vielen Informationen erquicken und  jeder kann auf Spuren alter Geschichte wandeln. Es wird ausgiebig, klug und kundig informiert, alles mit Zahlen, Fotos und Karten belegt.

Jedes Kapitel hat ein Schwerpunktthema: die Temeswarer Synagogen, das Judenkarree, die israelitische Schule, der jüdische Friedhof, das jüdische Leben der Stadtteile – Innenstadt, Fabrikstadt, Josefstadt und Elisabethstadt. Alle Kapitel sind verschieden farblich markiert. Neben Por-träts, die auch farblich markiert werden, erzählt die Herausgeberin über vergangene Ereignisse, persönliche Schicksale, Blütezeit und Niedergang des jüdischen Lebens. Besonders beeindruckend beschreibt sie das Leben im Judenkarree der Innenstadt, wo sich heute der Sitz der jüdischen Gemeinde, geleitet von Frau Dr. Luciana Friedmann, befindet.

Fünf Synagogen und ihre Geschichten, jene in der Innenstadt, der Elisabeth-Hof von 1906 und die zwei der Fabrikstadt, die sephardische, heute Gebetshaus der Adventisten, die Neue Sy-nagoge sowie die der Josefstadt sind ausführlich beschrieben. Die Einweihung der Neuen Synagoge der Fabrikstadt, eines der vielen in Temeswar stehenden Werke des Sezessionsarchitekten Lipót/Leopold Baumhorn, 1899, von der es hieß, sie wäre „atemberaubend schön“ – kann man heute nicht mehr besuchen, da sie im Verfallszustand ist. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dr. Adolf Vértes, benannte 1906 bei der Eröffnung der Innenstädter Synagoge die wichtigen Momente in der Geschichte der Temeswarer Juden: Diskriminierung unter Maria-Theresia, das Toleranzdelikt von Kaiser Joseph II. und ab 1867 die Emanzipation – und Blütezeit. Letztere dauerte bis kurz vor dem II. Weltkrieg. 

Man könnte hinzufügen, dass Temeswar eine Ausnahmeerscheinung ist, da hier keine Massen-Deportation von Juden stattfand. Das jüdische Leben ging weiter in dieser Stadt: Von 1941 an war Ernest Neumann 60 Jahre lang Rabbiner der jüdischen Gemeinde: „Nur wer beseelt ist, kann beseelen“, war sein Motto. Als Förderer der Ökumene traf er sich mit dem Metropoliten der Banater Orthodoxen Kirche, Dr. Nicolae Corneanu, und mit Sebastian Kräuter, dem Bischof der römisch-katholischen Kirche. Auf dem jüdischen Friedhof liegt das Grab des ältesten Juden, des aus Saloniki 1636 eingewanderten Wunderrabis Oppenheimer und die Gräber der Verwandten von Theodor Herzl sowie der Urgroßmutter von John Kerry, des Ex-US-Außenministers und heutigen präsidialen US-Umweltbeauftragten. Dort befinden sich Grabstätten großer jüdischer Familien: Eisenstädter, Gotthilf, Brück, Färber, Hüsch u. a. Neumann regt an, diesen Friedhof eines Tages zum Freilichtmuseum umzugestalten, da er ein „wichtiges Kulturerbe“ einer bedeutenden Gemeinschaft sei.

In „Auf den Spuren des jüdischen Temeswar“ und in „Innenstadt“ beschreibt sie jüdische Familiengeschichten vermittels repräsentativer Paläste, so das Brück-Palais (Arch. Merbl, 1905), das Kecskeméti-Palais (1898), das Miksa-Steiner-Palais (1901, „ein Palais voller Poesie und von einzigartiger Finesse“), das Barockpalais (1886, Arch. Jakab/Jaques Klein) – alles Prunkstücke, die nun nach und nach alle saniert werden und in neuem Glanz erstrahlen. Auf dem Domplatz steht das bekannte Brück-Haus von 1911, wo heute noch die alte Apotheke in Betrieb ist, das barocke Solderer Haus (1739), hier wohnten die ersten Rabbiner der Stadt oder das elegante „Haus mit dem Hahn“ (191, Gálgon-Haus, Arch. Henrik Telkes – eigentlich Henrik Rosenthal - mit Elementen ungarischer Volkskunst). Lászlo Székely war Architekt des Industriegewerkschafts-Palais von 1927, des Stefania-Palais von 1908 in der Fabrikstadt oder der fünf Paläste auf dem Freiheitsplatz. Dort finden wir, umrahmt vom Opernhaus, sieben große historische Paläste: das Lloyd-, das Löffler-, das Merbl-, das Neuhaus/Färber-, das Hilt&Vogel-, das Dauerbach-, das Széchenyi-Palais. Das Lloyd Palais der Architekten Baumhorn und Merbl, 1912 erbaut, mit dem stadtbekannten Restaurant Lloyd steht neben dem Dauerbach-Palais mit dem Café Palace. Gegenüber liegt das Palais Löffler von 1912 des Architekten Henrik Telkes, das als eines der wenigen noch nicht renoviert wurde, trotz beeindruckender Größe und Schönheit, mit Statuen des Bildhauers Géza Rubletzky (wahrscheinlich). Der Freiheitsplatz wurde nach 1989 zum Symbol für eine befreite Stadt.

Die Fabrikstadt ist das Stadtviertel, in dem die Juden am zahlreichsten vertreten waren. Den Reiz der Innenstadt finden wir dort nicht, aber dort war „der Motor der Stadt“: Konfektionsläden, Schuhgeschäfte, Textilgeschäfte, Apotheken, Lebensmittelläden, Farbengeschäfte, der „Tandlmarkt“, die Mikve, die Bierbrauerei bis hin zum Schwimmclub ILSA. Das Schtetl-Leben war am lebendigsten dort. In der Josefstadt, benannt nach Joseph II., 1773, der Elisabethstadt, 1896 zu Ehren der Kaiserin Elisabeth/Sissi von Österreich benannt, setzt sich dann die Reihe der Paläste und Häuser fort. Anfang des 20. Jh. wurde die Josefstadt das Zentrum der israelitischen Gemeinde.

Im Anhang werden etwa hundert Persönlichkeiten des jüdischen Lebens aufgelistet. Bei der Personenliste vermisse ich einen Namen, der Generationen von Temeswarer Schülern prägte, darunter zahlreiche Kinder von jüdischen Familien: Erich Carol Pfaff, Sohn einer jüdischen Mutter (Irene Domokos), der Schulleiter der bekannten deutschen Lenauschule. 

„Diese Stadt war von einer unerhörten Eleganz!“ sagte Peter Freund. Wer mit dem Reiseführer durch Temeswar schlendert, kann das bewundernd feststellen und viel Neues entdecken. Getta Neumann ist zu danken, dass sie im Buch auf andere Erinnerungsbücher und Erzählungen in Zeitschriften hinweist und unsere Neugier weckt, sowie den Wunsch, noch mehr Geschichten über das Leben der Juden in Temeswar zu lesen.