„Diese Bilder mache ich nur wegen den Gedanken“

Ausstellung „Fetzenbilder“ von Lilian Theil: Kunst und Philosophie, Ästhetik und Historiografie

Mit Dr. Daniel Zikeli vor dem Bild über „Anstand“ | Fotos: George Dumitriu

Jesus

Moderne Heilige

Drei Arten, in einem vereinten Europa zu leben: Autonomie, Assimilation, Toleranz

Das 20. Jahrhundert (v. r. n. l.): Krieg, Kommunismus, Wohlstandsgesellschaft

Was haben wir aus unserer Erde gemacht?

Sie spricht, als ob das 20. Jahrhundert ihr gehört: Von Krieg, Nationalsozialismus, der Anfangsphase im Kommunismus, der grauen Ceaușescu-Zeit. Über den Konsumwahn nach der Wende und die modernen „Heiligen“: Fußball, Superstars, Medien. Sie spricht über die Zerstörung der Umwelt. Über die Art, wie die Menschen in einem vereinten Europa zusammenleben könnten. Oder was es bedeutet, „anständig“ zu sein. „Das waren Themen, die mich mein ganzes Leben lang bewegt haben“, sagt Lilian Theil. „Denn  ich habe das alles selbst erlebt!“ Doch die 88-jährige Patchwork-Künstlerin beherrscht noch eine andere Sprache als Worte, die noch eindringlicher wirkt: Sie näht ihre Gedanken als Bilder – aus Flicken.

Ihre „Fetzenbilder“ sind Kunst und Philosophie, Ästhetik und Historiografie, Analyse und Gesellschaftskritik in einem - und ein Spiegel: Blickt man hinein, schaut einem fast ein ganzes Jahrhundert ins Gesicht! 

Die Kunst: minutiöse Arbeiten mit Stoffresten und Faden. Ein Bild dauert ein bis drei Monate, verrät die Künstlerin. Sie soll schon so manchen Besucher freundlich, aber bestimmt genötigt haben, sich auszuziehen, um ein bestimmtes Kleidungsstück zu spenden, wegen dessen Farbe, provoziert der Umschlagtext des von Anselm Roth gestalteten Ausstellungskatalogs, in dem Lilian Theil ihre  Motive erklärt. 

Doch eigentlich war es der Gedanke an die Umwelt, der die Künstlerin bewog, alte Kleider wiederzuverwerten. 1974 hatte sie tief beeindruckt den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums der Menschheit gelesen. Fortan beherrschte sie der Gedanke des Recyclings. „Damals dachte noch niemand über dieses Thema nach“, bemerkt Lilian Theil. Ihre zauberhaften Fetzenbilder näht sie erst seit der Wende, nachdem ihre  Söhne nach Deutschland ausgewandert waren. Ausziehen muss sich mittlerweile niemand mehr, ihr Vorrat an geschenkten Stoffen füllt ein ganzes Zimmer.

Bildgewordene Gesellschaftskritik

Seit zwei Monaten zieren elf Werke von Lilian Theil die Wände der evangelischen Kirche in Bukarest. Bis Februar oder sogar März sind sie dort noch zu sehen, denn die Ausstellung wird verlängert, verspricht Stadtpfarrer Dr. Daniel Zikeli. Für manche Besucher aus dem orthodox geprägten Umfeld sei es irritierend, Kunst in einer Kirche vorzufinden, erklärt er. Im evangelischen Glauben sei dies kein Widerspruch. Schon Luther interpretierte die Fähigkeit des Menschen, durch Kunst am Schönen zu wirken, als Wesensäußerung der göttlichen Schöpfung. „Es sind meditative Werke, die zu intensiver Reflexion einladen“, betont er.

Zwei Werke hat die Kirche der Künstlerin abgekauft: die „Modernen Heiligen“ und „Jesus und was wir aus seiner Lehre gemacht haben“. Das zweite steht als mutige Kritik direkt vor dem Altar. Hinter einem naiven Heiland in warmen Farben deuten sich Silhouetten von Reitern und behelmten Soldaten an, Gewehre zielen in alle Richtungen, eine Faust ragt drohend in die Höhe. „Nur Kriege und Blut und Mord haben wir daraus gemacht!“ schimpft die Künstlerin. „Kreuzzüge. Hexenverbrennungen, die Ureinwohner Amerikas und Australiens im Namen der Kirche umgebracht...“ Die 88-Jährige nimmt kein Blatt vor den Mund. Kaum ein Werk von ihr, in dem im Hintergrund nicht kritische Gedanken hochkochen. Und doch findet Pfarrer Zikeli, die Kirche sei ein guter Ort, besser als irgend ein Ausstellungsraum. „Sprechen Sie mit ihr“, sagt er, während ich mir ihre Nummer notiere. „Sie ist sehr lebendig - enorm, diese Frau!“

Die Künstlerin, 1932 in Kronstadt/Bra{ov geboren, heute lebt sie in Schäßburg/Sighi{oara, erzählt. Was sie gemacht habe, nachdem sie 1952 wegen „ungesunder Herkunft“ plötzlich von der Kunstakademie „Nicolae Grigorescu“ ausgeschlossen wurde? „Lauter Blödsinn!“, lacht sie hell. „Zwei Jahre Medizin studiert, doch es war schrecklich - zerstümmelte Leichen und lebendige Frösche!“ Ihrem berühmten Großvater, dem Arzt Dr. Alexandru Obregia, nachdem das psychiatrische Krankenhaus in Bukarest benannt ist, ist sie nicht in die Fußstapfen getreten.  
Nach der Revolution besann sich Lilian Theil zurück auf die Kunst. Neun Ausstellungen hatte sie im In- und Ausland. Manchmal bestellen Frauen aus Deutschland Bilder bei ihr.  „Meistens Blumen - doch jetzt soll ich ein Kornfeld machen, ich habe noch keine Vorstellung, wie“, kichert sie. Am liebsten aber näht sie ihre Gedanken. 

Was ist Anstand?

Gewichtige Gedanken, die sie ein Leben lang beschäftigt haben. Zehn Jahre hat sie über das Wort „anständig“ nachgedacht, bis sie eines Nachts aufwachte und es ihr wie Schuppen von den Augen fiel: Anstand hat mit dem gesellschaftlichen Stand zu tun, „anständig sein“ könne man nur vor diesem Hintergrund definieren. „War mein Onkel, ein General, anständig? Wir haben Akten gefunden mit Berechnungen, wie man in der Schlacht möglichst viele Menschen töten kann... Kann man als Politiker anständig sein? Es geht nicht, man muss lügen. Waren die, die die Welt regiert haben, anständig? Arme können auch nicht anständig sein, sie müssen stehlen, für ihre Kinder...“, gerät sie in Fahrt.

Ihr Bild zeigt in der Vertikalen die Stände: oben die Macht - Konzerne, Freimaurer, Päpste, Könige, die Wissenschaft. Darunter die Politiker. Ganz unten die Armut. Horizontal die Skala von Gut und Böse: Links Jesus und die heiligen Märtyrer - „die sehr guten haben wir umgebracht“. Rechts ein Gefängnis - „die sehr Bösen haben wir eingesperrt“. An der Kreuzung der Achsen in der Mitte steht der Bürger. Der habe es am einfachsten mit dem Anstand. „Alle anderen, oben und unten,  haben irgendwelche Extrarechte zum Stehlen.“ Anständig ist man vor seinem Stand, doziert die Künstlerin. Dies reflektiere sich in der Sprache: „cum se cade“ (wie man fällt) auf Rumänisch, „comme il faut“ (wie man sein muss) auf Französisch, „rendes“ (ordentlich) auf Ungarisch.

Das 20. Jahrhundert. Umwelt. Corona

Auf Geheiß suche ich die Trilogie zum 20. Jahrhundert. Dort hat sie die Essenz dreier Abschnitte erfasst: Als erstes den Krieg, die Nazi-Zeit, den blutigen Anfang des Kommunismus. Hakenkreuze, Grabkreuze, Stacheldraht. Warum ist es so bunt? „Blut ist rot“ sagt sie. „Der Schrecken hat kräftige Farben.“ Dann die Ceau{escu-Ära, alles grau in grau: „Es war eine Zeit, in der man irgendwie gefangen war.“ Das dritte zeigt eine Krake, die sich alles einverleiben will: Autos und Häuser, Hunde und Katzen. „Das ist das Heute-Wunschbild“, erklärt die Künstlerin, „die 30 Jahre nach der Revolution.“ Doch was bedeuten die Hunde und Katzen? „Die Leute haben keine Kinder mehr - sondern bauen Häuser, reisen, halten Rassehunde und Katzen.“ 

„Fragen Sie mich!“ drängelt sie, während ich auf dem Laptop die Bilder der Ausstellung abblättere. „Und schreiben Sie ja keinen Blödsinn!“ warnt sie und lobt die ADZ als beste Zeitung der Welt. „Blödsinn“ scheint ihr Lieblingswort zu sein, sie verwendet es mindestens viermal. Tadelt mich, weil ich den Bildband nicht habe. Schimpft, dass er ihr sowieso nicht gefällt, „so wilde, kitschige Farben“. Aber ihre Gedanken darin, die müsse man unbedingt lesen!  Ob sie sich mit Corona befasst habe? Sie lacht: „Ach nein, das mache ich dann in zehn Jahren!“ 
Da ist es, das gesuchte Bild. Und irgendwie hat es doch mit Corona zu tun. „Stellen Sie sich vor, das habe ich letztes Jahr gemacht, da gab es noch kein Corona!“ Ein Baum - die Evolution zum Homo sapiens, Zivilisation, Industrialisierung, Zerstörung der Erde - und ganz oben ein Mann mit einem Revolver, den er in der Armbeuge versteckt. „Ich bin zum Resultat gekommen, dass nur die Gewalt die Menschen vom Konsum abhalten kann!“ Ich murmele: „Oder ein Virus.“ Sie ruft: „Auch eine Art von Gewalt!“ Denkpause, dann sagt sie leise: „Es könnte ja sein, dass Corona diese Gewalt hervorbringt. Ich meine, es könnte ja sein...“ Und mit Nachdruck: „Denken Sie sich, während meines Lebens hat sich die Menschheit vervierfacht - von zwei auf acht Milliarden!“

Das Leben. Zusammenleben. Europa

Wie sieht man mit 88 das Leben? Auch dazu gibt es ein Bild. Unten: tanzende Kinder. Aus ihrer Mitte löst sich ein Menschenfaden, steigt in den Himmel auf, verschwindet als Knäuel im schwarzen Loch: der Tod. In der Mitte schleppen gesichtslose Konturen Säcke auf dem Rücken. „Das ist die Mitte des Lebens, die gehört einem nicht“, erläutert Lilian Theil. „Da ist man ein soziales Wesen:  Kinder, Ehe, Beruf. Nur in der Kindheit und im Alter ist man sich selbst.“ Das Bild entstand nach dem Tod ihres Mannes.  „Sehen Sie, hier, die wartenden Greise? Man bleibt auf den Trümmern seines Lebens stehen. Und dann kommt man ins schwarze Loch. Dass man so im schwarzen Loch verschwindet und gar nichts übrig bleibt...“ Ob sie an ein Leben nach dem Tod glaubt? Wieder dieses glockenhelle Lachen: „Ich weiß es nicht! - Ich sage es Ihnen dann!“

Noch ein Bild müsse ich unbedingt suchen, insistiert die Künstlerin. Da! Wieder verbindet ein Baum die Ebenen, im Geäst musizierende „Zigeuner“. Arglos benutzt sie noch diesen Begriff, unterbricht: „Ich bin eine Zigeunerfreundin!“ Links von ihnen die Sachsen, rechts die Ungarn und die Rumänen, alle mit ihren Kirchen und Trachten, säuberlich getrennt; darüber, genäht, in drei Sprachen: „Autonomie“. „Oh Gott, ist das kompliziert“, holt Lilian Theil aus. Ein vereintes Europa habe sie darstellen wollen. „Und bin dabei zu dem Schluss gekommen, Rumänien ist ein Vorbild.“ Das Geheimnis des guten Zusammenlebens der Ethnien? „Dass sie einander gleichgültig waren - nicht, dass sie einander geliebt haben!“ Eine Ebene darunter „Assimilation“: Das Aufgehen im Einheitsbrei. Figuren vor Wohnblocks, alle gleich angezogen, Blick auf ihre Handys. Ganz unten „Toleranz“: Jemand teilt Geld, Kleider, Dokumente aus. „Der Tolerierende gibt, der Tolerierte empfängt. Das ist im Zusammenleben das Schlimm-ste!“, behauptet sie. „ Sie spricht von ihren Söhnen, denen es gut geht in Deutschland, sie sind glücklich, doch im Inneren verwundet. Das Gefühl, von anderen etwas zu bekommen, sei kein gutes, insistiert Lilian Theil. „In der Heimat kann ich kritisieren. Aber nicht in einem Land, wo andere gekämpft haben, wo andere etwas aufgebaut haben, von dem ich nur profitiere.“ Und dann sagt sie ganz plötzlich etwas zutiefst Erschütterndes: „Ich führe Terrorakte auf dieses unbewusste Gefühl des Toleriertwerdens zurück.“ 

Und ich denke, vielleicht ist diese Ausstellung doch ein wenig zu groß für diesen einen  Ort. Vielleicht sollte sie im UNO Hauptquartier zu sehen sein. Oder zumindest in Brüssel. 

Ausstellungsort: Evangelische Kirche Bukarest, Strada Luterana 2, Do bis Fr: 14 bis 18 Uhr, Sa: 12 bis 18 Uhr.