Diogenes sucht Licht. In Rom

Ein Rom-Führer für Anspruchsvolle, geschrieben mit kritisch-kunstgeschultem Blick von einer Vollblutlyrikerin

Das Buchcover von Traian Pop Traian hat die Bocca della Verita, den Mund der Wahrheit im Zentrum, die riesige antike Marmorscheibe mit einem zeitversehrten Triton, „wie ein Überbleibsel aus barbarischer Urzeit“. Ilse Hehn bringt die Bocca mit Voltaires Candide in Zusammenhang.

Stimmungsfoto mit den Dioskuren.
Fotos: Ilse Hehn

„Durch die römische Geschichte zu reisen heißt, ein Spinnennetz zu berühren, dessen ganzes Gewebe in Schwingungen gerät.“ So fühlt es die Autorin in etwa der Mitte des wohldurchkomponierten Bandes, der mit Sicherheit das Etikett „Literatur“ auf den Deckeln verdient, dessen Klassifizierung als „Epik“ (Cover) aber in Zweifel zu ziehen ist. Nicht zufällig endet das Buch auf Seite 136 mit „Via Appia Nuova abends“, einem Gedicht: „Zwischen dem Hin & Her Santissima Trinitŕ dei Monti und/ Spanische Treppe in den MetroTunnel den Bauch Roms/ gefallen/ in die Zwergenwelt der Gegenwart/ zu gespenstischen Resten einer Art Biomüll/ zusammengeschrumpft/ ausgespuckt weitab von Bernini und Bramante/ ins schwarze Maul/ der Veritŕ welche auf solch triste/ Art die Architektur unserer eigenen Epoche/ der Lächerlichkeit preisgibt// Der Tag versinkt in Ödschaften/ unsere handkolorierten Träume/ steigen planvoll ins Bild“. Dazu ein fotografisches Zerrbild von Licht(ern): die „Ödschaften“.

Das ist unzweideutig als Gedicht gekennzeichnet. In allen „Prosa“- oder „Epik“-Texten dieses gleicherma-ßen lesens- wie sehenswerten Buches schwingt – selbst in kritisch-sarkastischen Bemerkungen – eine lyrische Stimmung und die Farbbewusstheit und -sehnsucht der Malerin Ilse Hehn mit, die diesen Rom-Führer individualisieren, aber den Leser auch zum Mit-Schwingen und poetischen Farb-Sehen bringen, ja zwingen. „Das Licht stürzt vom Thron. In schöner Schlichtheit der Platz. Die Dioskuren ruhen aus, ihre Pferde sind getränkt. Am Himmel verwässerte Tinte, zögerliches Grau, eine Schattierung Violett. Davor schwarze Schattenrisse der Bäume./ Vereinzelt Menschen. Wie in einer abgeschiedenen, vergessenen Gegend. Wir nicken uns zu und gehen wieder in unsere Häuser zurück. Die Stadt wölbt ihren steinernen Buckel gegen die strömende Zeit.“ („Abend auf dem Kapitol“, S. 22). Dazu das Foto, das wir hier veröffentlichen.

Will man dieses Buch praktisch als Rom-Führer gebrauchen, muss man sich bemühen, die selben Tageszeiten, Blick- und Schlupfwinkel, die selbe Gemütsstimmung, den selben Schrittrhythmus und dieselbe Atemfrequenz wie die Autorin zu treffen, ja das selbe Wetter erleben - auffallend: in Ilse Hehns lyrischem Rom-Führer regnet´s nie! -, vielleicht sogar kompatible Schuhe tragen?

Jedenfalls kann man Wolfgang Schlott, dem Präsidenten des Internationalen Exil-PEN, Abteilung deutschsprachige Länder, wo Ilse Hehn Vizepräsidentin ist, nur beipflichten, wenn er der Autorin bestätigt, „Rom mit aller Inbrust“ zu lieben, „seine lichtüberfluteten Plätze und sprudelnden Brunnenkaskaden“, die „römischen Skulpturen mit kontrastgeladenen Blicken“ zu erfassen, die „ornamentale Pracht“ zahlloser Basiliken und Kirchen „bewundernd und kritisch“ abzubilden, mit „oft frivolen Schnappschüssen auch das touristische Treiben (...) lebendig darzustellen.“

Als charakteristisch für Ilse Hehns Rom-Sicht sei diese Passage aus „Wenn Engel blasen“ zitiert, u.a. über den Dominikaner Antonio Michele Ghislieri (Papst von 1566 bis 1572, als Pius V., S. 28): „Einst wollte Papst Pius V. die Vatikanischen Paläste von heidnischen Statuen säubern und transferierte diese in den Konservatorenpalast. Gänge also vollgestopft mit Statuen, die sich gegenseitig fast auf die Zehen treten. Wenn all diese Nackten, die da so zahlreich herumstehen, eine Erektion hätten, gäbe es hier kein Durchkommen mehr.// Später der flaggengeschmückte Saal, in dem 2004 die Europäische Verfassung unterzeichnet wurde. Niemand mehr kann sich aus der Zeit herausmogeln.“

Ilse Hehns Kontrastblick? Sicher. Kontrastbewusste Sicht eines Gegenwartsmenschen, der festverwurzelt ist im Leben. Der viel weiß – und einiges auch mitteilt, auch mal durch die Blume – über Vergangenes und Heutiges. Deshalb ist der Autorin hier die Kamera das verlässlichste Werkzeug, nicht der Pinsel und nur eingeschränkt die Feder: Die Kamera kann kaum betrogen werden. Sie ist nie subjektiv – es sei denn, der Mensch greift „korrigierend“ ein.

„Ich schlendere über das Steinpflaster Roms, wo die alten Römer selbst auf den Deckeln der Kanalisationslöcher ihre Duftmarke S.P.Q.R. hinterließen, staune, wieso die Päpste nicht auch ihre Tiara dort eingravierten. Die Italiener hätten auch das hingenommen, wie sie alles hinnehmen – mit Gelassenheit und einer Dosis Sarkasmus. Kein Heiliger und kein Heide ist von dieser Ironie, die so viel irdisches Parfüm besitzt, verschont geblieben. Hier Beispiele einiger Spottnamen: Das Vittoriano, ein Monument, das nach Pathos stinkt, ist in stolzem Besitz sogar mehrerer Namen: Die Schreibmaschine, Das Gebiss, Hochzeitstorte, Das Piano; (...) der Justizpalast: Palazzaccio – hässlicher Palast; (...) der Elefant von Bernini vor der Sopra Minerva-Kirche: Pulcino – der Floh; der Brunnen vor der Spanischen Treppe: Barcaccia – verrottete alte Wanne (...).“ („Irdisches Parfum“, S. 74)

Ilse Hehn fühlt sich pudelwohl in dieser Atmosphäre Roms, dem Gemisch von „Sarkasmus“ und „Gelassenheit“, dem souveränen „Je m`en fou“ mit hochgerecktem Stinkefinger der Rombewohner. Sie geht mit bewundernder Respektlosigkeit und einem Touch von Kongenialität mit den berühmten und weniger bekannten Kunstwerken der Stadt um, die sie abzuspulen versucht (manchmal leider versperrte Türen trifft).

Das Fresko des Filippino Lippi sieht sie so: „Filippino Lippi (1457-1504) – Spross der skandalösen Verbindung des Malermönchs Fra Filippo Lippi und der Nonne Lucrezia Buti. // Pfeif auf Konventionen, lass die Puppen tanzen, bind ihnen rote Schleifen um die Füße, bring richtig Schwung rein in die Schar der Musizierenden./ Mag er sich gesagt haben. Und tat´s. Die herausgeputzten Engelchen spielen und tanzen so beschwingt und hemmungslos, dass sogar der Eindruck entsteht, Maria sei während ihrer Himmelfahrt von einer Staubwolke umgeben.“ („Lass die Puppen tanzen“, S. 86). Oder: „Weiter unten auf dem Altarbild empfiehlt der Heilige Thomas von Aquin der Madonna den Kardinal Carafa. So ganz ist diese jedoch nicht bei der Sache. Obwohl dem Kardinal zugewandt, ist ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Verkündigungsengel konzen-triert, der eben mit großer Eile herangeflogen kommt, (...). Man ahnt: Maria wäre jetzt lieber allein mit Gabriel – was soll´s mit all dem weltlichen Getue?“ („Nochmals Lippi“, S. 88). 

Sie kann´s aber auch anders, die Ilse Hehn, respektvoller, distanzierter bewundernd: „In keiner anderen römischen Kirche, keinem Tempel, ist das Licht als gestaltgebender Faktor so sehr in die Bauschöpfung einbezogen wie im Pantheon, es wird durch keine farbigen Fenster durchbrochen wie in anderen Kirchen, es erscheint als reines Element, dringt durch die offene Kuppelwölbung ein, wie Regen und Schnee in sie eindringen können./ (...)/ Soeben bilden die einfallenden Sonnenstrahlen auf dem Attikateil der Wandgliederung einen hellen Fleck, der gleich einer geheimnisvollen Sonne im Laufe des Tages in diesem Raum seine Bahn beschrieben und dabei auch die Grabstätte des großen Renaissance-Künstlers streifen wird./ Es gebührt Raffael, in solchem Licht zu ruhn.“ („Licht“, S. 78).
Schön das Loblied der Autorin auf den Papst „Hadrian VI., aus Utrecht stammend, einst Lehrer von Kaiser Karl V. Als Sohn eines Schiffszimmermanns nicht durch die Schule des Reichtums gegangen (...). Zu Beginn der Reformation wollte er aufrichtig Reformen in der römischen Kirche. Er scheiterte (...). Es herrschte Entsetzen, als Hadrian Papst wurde: Weder Künstler, noch Gelehrter, keine Musik, kein Sonett wie sonst hinter den heiligen Mauern. Denn Hadrian war kühl und direkt, er betete und arbeitete. Konkret hieß das – er versuchte, die römische Kirche von ihren Lastern zu reinigen./ Das dauerte ein Jahr. 1522-1523. Dann ließen sie ihn sterben. Die Inschrift auf seinem Grab besagt, wie wichtig es sei, in welche Zeit das Leben eines Mannes falle./ Ich lege meine Hand auf den kühlen Grabstein. Licht fällt auf sie./ Oft ist Licht besser als Wärme.“ („Licht“, S. 50)

Dann wieder wuchtige „Epik“-Gedichte, etwa dieses: „Im Stein der Stadt die menschlichen Torsi, beladen mit Bildern, gefräßig nach ewigen Geschichten, das Lebendige ist Schorf. Geschichte kriecht empor wie ein unreines Tier, dein winziges Leben zuckt, die zu weiten Kleider zeigen Zähne, frontal das Leben ansehen, heischen sie./ Vom Tiber her fällt kaum Kühle in die Straßen, Wolken aus Chemie wie Weihrauch über dem Vatikan, die Kollonaden des Bernini schwelen. Irgendwo welkt Aura.“ („Schorf“, S. 112). Dazu das Foto auf der Gegenseite: „Straßenecke an der Via Tor di Nona“, mit in Plastiksäcke prallverpacktem Müll und Unrat an der Hauswand. 

Fotos werden von Ilse Hehn entweder als Beweis und Rechtfertigung ihres kritischen Blicks den Texten gegenübergestellt, oder als Illustration einer Behauptung, egal, ob dies ihre eigene oder eine angelesene ist. Eine der schönsten gilt einer der wenigen stehenden (ursprünglich) nackten Jesus-Statuen der Renaissance, Michelangelos „Der auferstandene Christus mit dem Kreuz“ (1519-1522): „...gehörte sie im 16. Jahrhundert zu den am meisten bewunderten Arbeiten Michelangelos. Dem Maler Sebastian del Piombo schien das Werk so unübertrefflich, dass er sich zu dem Ausspruch hinreißen ließ, schon ein Knie der Statue sei mehr wert als ganz Rom.“ Dazu dann wieder ein sarkastischer Abschlusskommentar der Autorin: „Das kennen wir: Künstler sind gar oft arg begeisterungsfähig.“ („Mehr wert als ganz Rom“, S. 82). Und ein Detailfoto der Christusknie.

Als Vorletztes aus den 67 Text-Lichtblitzen des Hehn´schen Romführers sei hier „Schnee“ (S. 114) zitiert; „Der Himmel glänzt, als klebten Münzen dran. Sonnenstrahlen hängen wie Stricknadeln herunter. Doch Satz um Satz umgeben sie unsere Köpfe, Wort für Wort ziehen sie sich zurück – Spiegelschrift irdischer Barrieren. Auch in diesem Weltwinkel, sonderba-rerweise Caput Mundi genannt, legt sich die Gleichgültigkeit des Lichts wie Schnee über Marmor, Müll und Mensch.“ Und zuletzt über meinen Lieblingsmaler Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, ein Genie und ein Vagant und vielleicht auch ein Mörder: „Keine Landschaft, nur die Körper. Kräftige, zupackende Arme, hervortretende Venen, schwarz geränderte Fingernägel, schmutzige Fußsohlen, das vor Schmerz verzerrte Gesicht des ans Kreuz Geschlagenen. Das Zusammenrücken der Figuren – welch dichtes Raumfeld!/ Das einfallende Licht, in dem Bild „Bekehrung des Paulus“ noch gebündelt, streut sich hier auf sämtliche Personen. Dahinter nichts als die umschließende, die abschließende Dunkelheit.“ („Drastischer Realismus“, S. 102)

Wer Rom besucht, sollte auch Ilse Hehns Buch im Ranzen haben.

Ilse Hehn, „Roms Flair in flagranti“, erschienen im Pop Verlag Ludwigsburg 2020, ISBN 978-3-86356-284-7, Epikreihe, Bd.109, 19,90 Euro