„Du bist ein anderes Ich – eine Kathedrale des Körpers“

Adina Pintilie, die rumänische Vertreterin auf der Kunstbiennale in Venedig 2022

ine Kostprobe der Installation von Adina Pintilie. Darsteller: Hermann Müller und Dirk Lange
Bildregie: George Chiper-Lillemark

„Du bist ein anderes Ich – eine Kathedrale des Körpers“ ist der Titel des Kunstprojekts, das Rumänien bei der 59. Auflage der Kunstbiennale in Venedig vertreten wird. Das von der Bukarester Regisseurin und Drehbuchautorin Adina Pintilie geschaffene und von Cosmin Costina{ und Viktor Neumann kuratierte Projekt wurde aufgrund des vom Kulturministerium, Außenministerium und dem rumänischen Kulturinstitut organisierten nationalen Wettbewerbs aus insgesamt 13 Kunstprojekten durch die Abstimmung einer fünfköpfigen Jury ausgewählt. Im rumänischen Pavillon in den venezianischen „Giardini della Biennale“ wird eine audiovisuelle Installation ausgestellt, die durch eine von der Neuen Galerie des Rumänischen Instituts für Kultur und Humanistische Forschung in Venedig beherbergten Virtuelle-Realität-Installation ergänzt wird.

Das Projekt „Du bist ein anderes Ich – eine Kathedrale des Körpers“ bietet eine multimediale Sinneserfahrung, die aus Adina Pintilies langjähriger künstlerischer Forschung zu Intimität und Körperlichkeit entstanden ist. Diese wird durch die langfristige Zusammenarbeit mit den Protagonisten bereichert. Adina Pintilie erforscht  die zentrale Rolle, die Intimität in unserem Leben spielt, die Art und Weise, wie wir mit uns selbst und anderen umgehen, mit Hilfe einer speziellen Methodik, inspiriert von verschiedenen Körperpraktiken und psychologischen Untersuchungen, Bindungstheorie, Traumatherapie, Psychosomatik und Familienaufstellungen. Das Projekt schlägt neue Möglichkeiten des Sehens, Denkens und Interagierens vor, Möglichkeiten, die visuelle Rhetorik und konventionelle Blickpolitiken destabilisieren und neue erkenntnistheoretische und transformative Erfahrungen generieren.

„Touch Me Not“ – die nächste Stufe

„Du bist ein anderes Ich“ markiert die nächste Stufe des plattformübergreifenden Forschungsprojekts zum Thema Intimität, das die Künstlerin 2010 initiiert und 2018 mit dem Spielfilm „Touch Me Not“ öffentlich lanciert hat. Der Film, Gewinner des Goldenen Bären bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin, wurde von renommierten Institutionen wie MOMA New York, ICA London, BOZAR Brüssel präsentiert und weltweit für seine bahnbrechende audiovisuelle Sprache und Ästhetik gefeiert.

In Zusammenarbeit mit Künstlern, Institutionen und Gemeinschaften in ganz Europa entwickelt, generiert Adina Pintilies bereichsübergreifende Forschung ein umfangreiches und beeindruckendes visuelles Material, das die Künstlerin in verschiedenen Sprachen und Plattformen erforscht – Multimedia-Installation, interaktive Performance, Kino, Kunstbuch und Online-Erlebnisse.

Adina Pintilies Projekt, so die Begründung der Jury, zeichnet sich sowohl durch die ästhetische Wirkung der Videoinstallationen, verstärkt durch die Immersionsfähigkeit des Ausstellungsraums, die den filmischen Look unidirektional dekonstruiert, aus, als auch durch die Aktualität des Themas, die Strenge des Konzepts und die intermediale Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Jury würdigte das Projekt einstimmig insbesondere für seine originelle Herangehensweise an die Poetik und Politik der Privatsphäre und das Thema der Körperpolitik. Dabei fungiert die Kunst als Mittel zur Eröffnung eines Raumes, in dem die Idee einer integrativeren Gemeinschaft verwirklicht werden kann.

Auf einer Pressekonferenz, in deren Rahmen das Konzept des Siegerprojekts Rumäniens für die 59. Auflage der Kunstbiennale in Venedig vorgestellt wurde, verrät Attila Kim, der rumänische Vertreter für die Kunstbiennale, dass dieses Jahr zur Fortsetzung der Reihe der Künstler, die Rumänien bei den vergangenen Auflagen, nicht nur in klassischen Kunstumgebungen wie Malerei und Grafik, sondern auch durch Kunstinstallationen oder Performance-Kunst vertreten haben, durch Adina Pintilie eine neues Gesicht der zeitgenössischen rumänischen Kunst vorgestellt wird.

Position Rumäniens im internationalen Kontext

Andrei Novac, Staatssekretär im Außenministerium, hob hervor, dass die Internationale Kunstbiennale in Venedig ein Ereignis mit Tradition und von grundlegender Bedeutung für die zeitgenössische kulturelle Dynamik sei. Die 1895 gegründete Kunstbiennale ist eine der prestigeträchtigsten Kulturveranstaltungen der Welt, an der Rumänien 1924 zum ersten Mal mit einer nationalen Ausstellung teilnahm und 1938 unter der Leitung des hochkarätigen Historikers  Nicolae Iorga den Nationalpavillon baute.

Liviu Brătescu, Staatssekretär beim Kulturministerium, betonte, dass die Kunstbiennale in Venedig eine der renommiertesten internationalen Kulturveranstaltungen mit einer über 100-jährigen Tradition sei, die darauf abziele, neue künstlerische Trends durch die Veranstaltung internationaler Kunst, Architektur, Musik sowie Kino, Tanz, und Theater gewidmeter Ereignisse zu fördern. Das Projekt leistet einen wesentlichen Beitrag zu den aktuellen Diskussionen, die die Norm in Bezug auf Geschlecht, Fähigkeiten und körperliche Vielfalt neu bewerten, und ist mit seinem Konzept Teil des diesjährigen Biennale-Themas, das die Repräsentation von Körpern und ihre Metamorphose betont.

Der Präsident des Rumänischen Kulturinstituts, Liviu Jicman, der ebenfalls bei der Konferenz anwesend war, hielt es für wichtig, dass durch die Teilnahme an der Biennale, rumänische Künstler einen wesentlichen Beitrag zur Festigung einer relevanten und respektierten Position Rumäniens im internationalen Kontext der zeitgenössischen Kunst geleistet haben. Das Rumänische Kulturinstitut setzt die Tradition fort, die rumänische Präsenz auf der Biennale in Venedig zu unterstützen.

Paradigmenwechsel in der Politik der Berührung

Laut den Kuratoren Cosmin Costinaș und Viktor Neumann sei die Präsentation dieses Projekts bei der ersten Kunstedition der Biennale in Venedig seit Beginn der Pandemie mit all den tieferen sozialen Transformationen und Spaltungen, die sie hervorgebracht hat, von großer Aktualität. In den letzten kannte die Menschheit einen Paradigmenwechsel, sowohl in der Politik der Berührung als auch in anderen persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereichen, der neue, oft widersprüchliche Realitäten in Frage stellt: physische Distanz und Isolation, aber auch neue Formen der Verbindung, ein größeres Bewusstsein zur Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Körpers, des Lebens und der Welt, aber auch ein erneutes Bedürfnis nach Solidarität und dem Aufbau neuer Bindungen. „Heute ist der Körper erneut zu einem ‚Schlachtfeld‘ von Ideologien geworden, zu einem Vorwand für kulturelle und politische Ängste, die durch den jüngsten Ausbruch eines grausamen Krieges auf die Spitze getrieben wurden. Vor diesem Hintergrund ist eine tiefe, selbstreflexive und vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den Territorien von Intimität und Körperlichkeit dringender denn je“, unterstrichen die beiden Kuratoren.  

Zur Ausstellungsweise

Der Hauptausstellungsraum der „Giardini della Biennale“ beherbergt eine 45-minütige 9-Kanal-Videoinstallation, deren vollständige Betrachtung empfohlen wird. Sie ist um die Künstlergemeinschaft von Mitarbeitern aus verschiedenen Ländern, Generationen und Hintergründen herum aufgebaut: die Performer Hermann Müller und Dirk Lange, die Behindertenaktivisten Christian Bayerlein und Grit Uhlemann, die Schauspielerin und Schauspiellehrerin Laura Benson, die Transgender-Aktivistin Hanna Hofmann, der auch Adina Pintilie beitritt. In unterschiedlichen Konfigurationen erkunden die Protagonisten gemeinsam Intimität, indem sie sich durch Gespräche, Fürsorge, Tanzen oder Berührungen in Beziehung setzen. So arbeitet „Du bist ein anderes Ich“ mit Körpern, die zärtlich zueinander sind, welche sich gegenseitig in Selbstfindungsprozessen unterstützen, anderen das Gefühl, attraktiv und begehrt zu sein, geben und die Konflikte in Beziehungen akzeptieren, indem sie den anderen als sich selbst verstehen.

Der rumänische Pavillon gliedert sich in zwei unterschiedliche, aber komplementäre Bereiche: Der dunklere und größere Raum lädt durch eine Durchlässigkeit der Leinwand zwischen den Protagonisten und dem Publikum zur individuellen Selbstreflexion ein. Ein kleinerer Raum, diesmal hell, verweist auf den kollektiven und erholsamen Selbstfindungsraum in „Touch Me Not“ und setzt die Besucher einander aus.

Die Ausstellung im Pavillon wird durch eine Virtuelle-Realität-Installation in der Neuen Galerie des Rumänischen Instituts für Kultur und Humanistische Forschung in Venedig erweitert. Indem sie sich mit den Protagonisten in einer simulierten 3-D-Umgebung trifft und die zunehmend verschwimmenden Grenzen zwischen Virtualität und Körperlichkeit auslotet, hinterfragt die Installation die Idee der physischen Präsenz als Voraussetzung für Privatsphäre.

Die Installation der Künstlerin Adina Pintilie initiiert einen komplexen ästhetischen Dialog mit dem diesjährigen Schirmthema der Kunstbiennale in Venedig „Metamorphosen des Körpers und die Definitionen der Menschheit“, welches die Kuratorin Cecilia Alemani vorgeschlagen hat. Pintilie stellt den geschichtsträchtigen Pavillon als zeitgenössische „Kathedrale“ neu vor, die den menschlichen Körper, Unterschiede und Verbindungen feiert. Im Geiste des alten Maya-Grußes „Du bist ein anderes Ich“ zielt die „Kathedrale des Körpers“ darauf ab, Brücken der Kommunikation zu schaffen und die Dichotomien zu überwinden, die uns trennen. „Damit verwandelt Pintilie den rumänischen Pavillon in eine zeitgemäße „Kathedrale“, die den menschlichen Körper und seine Verbindungen jenseits aller Vorurteile zelebriert“, so die Kuratoren Cosmin Costina{ und Viktor Neumann.

Organisation und Förderung
Das Kunstprojekt „Du bist ein anderes Ich – Eine Kathedrale des Körpers“ wurde von Adina Pintilie und dem Kulturverein „Manekino Film“ entworfen, mit Avanpost, dem  Verein Snaporaz und dem Rumänischen Verein für Gegenwartskunst ARAC in Zusammenarbeit mit Augmented Space Agency und H3 & Kaustik Productions koproduziert. Die Teilnahme Rumäniens an der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig wird vom Kulturministerium, Außenministerium und vom Rumänischen Kulturinstitut ICR organisiert und gefördert.
Unter den institutionellen Sponsoren und Unterstützern des Projekts befinden sich das Haus der Kulturen der Welt Berlin (HKW), der Württembergische Kunstverein Stuttgart, das Bukarester Goethe-Institut, die Nationale Universität für Theater- und Filmkunst in Bukarest UNATC, das Internationale Zentrum für Forschung und Bildung in innovativen kreativen Technologien CINETic, das Exzellenzzentrum zur Bildforschung CESI, Università Iuav di Venezia, die Gegenwartskunstbiennale in Göteborg u. a.


Die Ausstellung „Du bist ein anderes Ich – eine Kathedrale des Körpers“ soll Rumänien auf der Kunstbiennale in Venedig 2022 vertreten. Diese kann vom 23. April bis zum 27. November 2022 besucht werden.
Eine Voransicht der Ausstellung ist am heutigen Donnerstag, dem 21. April, im rumänischen Pavillon in den „Giardini della Biennale“, um 17.15 Uhr Ortszeit, möglich. Im Anschluss an die Veranstaltung findet morgen ab 16 Uhr die Eröffnung der Virtuelle-Realität-Installation statt, die von der Neuen Galerie des Rumänischen Instituts für Kultur und Humanistische Forschung in Venedig beherbergt wird.