Effizient – aber wozu?

„Zersplittert“ von Alexandra Badea am Schauspiel Hannover inszeniert

Gefangen in einer Utopie von Effizienz und Produktivität: v.l.n.r. Henning Hartmann, Christoph Müller, Susana Fernandes Genebra und Mareike Sedl auf der Cumberlandschen Bühne in Hannover.
Foto: Klaus Lefebvre

„Unser Ziel heißt Exzellenz“, flüstert mit gereizter Stimme die Versuchs- und Entwicklungsingenieurin eines Weltkonzerns, während sie in Bukarest ihren Arbeitstag beginnt. Das Motto ihrer Forschungseinheit ist längst zum Motto ihres Lebens geworden, der Beruf dominiert ihr ganzes Dasein. Allein die Aufzählung der Browserfenster und Computerprogramme, die sie morgens öffnen muss, oder das besessene Klappern auf der Tastatur ohne jegliche Pause erzeugen beim Zuschauer ein Gefühl von sich anbahnendem Erschöpfungssyndrom. Über ein Fernüberwachungssystem kann die Karrierefrau zwischendurch einen prüfenden Blick in ihre Wohnung werfen, wo ihre kleine Tochter vom Kindermädchen betreut wird. Doch Bildschirme, Touchscreens und Kabel machen die innere Leere keineswegs erträglicher: die Ingenieurin ist restlos überfordert vom Arbeitstempo, überfordert vom Familienleben, überfordert vom Alltag - und der erste Wutausbruch kommt wie vorprogrammiert.

Die Bukaresterin, gespielt von Susana Fernandes Genebra, gehört zu den vier Mitarbeitern eines erfolgreichen multinationalen Unternehmens, die am selben Produkt arbeiten, doch viele Tausend Kilometer voneinander entfernt leben - oder besser: nebeneinander funktionieren. Sie begegnen sich nur virtuell, im Stück „Zersplittert“ von Alexandra Badea, dessen deutsche Erstaufführung am 7. Februar in Hannover zu sehen war. „Wir essen französisch – wir denken französisch – wir geben uns französische Namen“, von diesem Erfolgsrezept ist der Teamleiter eines Kunden-Centers in Dakar (Henning Hartmann) zutiefst überzeugt. Seine Mitarbeiter leben zwar alle in Afrika, ihre Stimmen arbeiten jedoch für französische Kunden, deshalb ist senegalesische Identität verboten. Ebenfalls streng verboten ist es, Nein zu sagen – eine Druckkulisse, die kaum auszuhalten ist. Er brüllt seine Angestellten an, duckt sich vor dem Vorgesetzten, versucht sein schlechtes Gewissen loszuwerden, indem er attraktive Bewerberinnen verführt, und findet sein eigenes Leben insgesamt völlig sinnlos. 

Noch viel näher am Status einer Maschine ist die Fertigungskraft, die am Fließband in Shanghai arbeitet (Mareike Sedl). Für sie ist alles geregelt: in der riesengroßen Halle steht ihr nur ein Quadratmeter zur Verfügung, es herrscht Rede- und Lachverbot, für Toilettengänge braucht man eine Sondergenehmigung, die Geräte arbeiten strikt getaktet, der Produktionsfluss kann nicht unterbrochen werden, gegessen wird in der Kantine, und selbst nachts findet man im Gemeinschaftsschlafsaal keine Ruhe. Am anderen Ende der Hierarchie sitzt mit seinen Luxusproblemen und dem obligatorischen Glas Whisky der „Head of Quality, Zulieferung, Lyon“ (Christoph Müller), ein selbstbewusster Alphamann, der um die Welt fliegt und nie weiß, in welcher Zeitzone er sich gerade befindet oder an welchem Meer er mit der Familie zuletzt Urlaub gemacht hat. Auch für ihn sind Bildschirme das wichtigste Gegenüber: er führt mit seiner Frau gelangweilte, standardisierte Skype-Gespräche, während er über sein Smartphone mit der Erotikchat-Animateurin „angel-of-the-night-05“ flirtet. Im Grunde genommen sind die Tagesabläufe der vier sehr ähnlich: die Menschen sind zu Ersatzteilen mit nicht allzu hohem Marktwert degradiert, sie haben keine Namen, keine Individualität, und sind außerhalb der Firma – Niemand. Zersplittert ist ihr seelischer Zustand, genau wie der Produktionsprozess auf viele Länder und Hunderttausende Menschen aufgeteilt ist. Sie haben leere Herzen, leere Köpfe, kein Privatleben und lediglich die Sicherheit eines Zahnrädchens in einem übermächtigen System.

Zersplittert ist auch der Text des Theaterstücks (deutsche Fassung: Frank Weigand). Passend zur Einsamkeit der Figuren treten anstelle des Dialogs bedrückende Einzel- und Selbstgespräche, die Sätze wirken fragmentarisch, abgehackt, steigern sich zu obsessiven Wiederholungen oder werden in abgedroschene Floskeln aus dem Unternehmensjargon zerlegt. Hier liegt ein großes Verdienst des Stücks, das sonst zwar wichtige Themen „von hier und jetzt“ wie Ausbeutung, Niedrigstlöhne, Kinderarbeit, Identitätsverlust aufgreift, sie jedoch künstlerisch nicht über das Übliche hinaus entwickelt. Etwas mehr Lokalkolorit hätte einen willkommenen Kontrast zur globalen Gleichmacherei dargestellt. Dies gelingt gut für den Standort Dakar, wo der Protagonist einen gefälschten, glitzerigen Versace-Anzug trägt, den Gottesdienst einer Freikirche besucht, weil das zu einem erfolgreichen Lebenslauf dazugehört, und trotz seines hochmodernen Berufs auf Busse diverser Glaubensgemeinschaften angewiesen ist, um ins Büro zu fahren. Das entsprechende rumänische oder französische „Spezifikum“, das den Bruch zur weltweit homogenisierten Firmenrealität geschärft hätte, fehlt leider.

Neben dem überzeugenden Auftritt der vier Schauspieler gelingt dem Trio Regie (Thomas Dannemann), Bühne (Heike Vollmer) und Video (Konrad Hempel) ebenfalls eine hervorragende Leistung. Die Handlung spielt in und um einen begehbaren Kasten mit zwei weißen, einer halbtransparenten und einer gläsernen Wand und wird von Kameraeinsätzen und Videoprojektionen ergänzt. Der Kubus dient je nach Bedarf als Schlafsaal, Sportstudio, Hotelzimmer, Fabrikhalle und Besprechungsraum, er versteckt das Agieren der Figuren vor dem Auge des Zuschauers oder hebt es hervor, wie in einem Schaukasten. Ein Gefühl von Echtzeit-Erlebnis bekommt man beispielsweise, wenn am Sitzungstisch gemütlich über Preise verhandelt wird, während die Überwachungskameras die desolate Produktionshalle zeigen, in der die Arbeiterin vom unerbittlichen Fließband-Piepen dirigiert wird. 

Ob die vier Figuren am nächsten Tag mit dem Arbeitsirrsinn wieder von vorn beginnen, bleibt offen. Die Moral von „Zersplittert“ steckt jedenfalls im Ungesagten: Wenn alle austauschbar sind, kann jeder ausbrechen, wann er will. Es liegt an einem selbst, sich zu befreien, sich mehr Spielraum zu schaffen – und trotzdem tut es (zumindest bis zum Ende des Stücks) keiner. Sie sind somit nicht Opfer, sondern Mitläufer.  Alexandra Badea, Jahrgang 1980, ist in Bukarest geboren, lebt seit 2003 abwechselnd in Frankreich und Rumänien und arbeitet als Bühnenbildnerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. „Zersplittert“ – im französischen Original „Pulvérisés“ - ist ihr viertes Theaterstück und wurde vor drei Jahren mit dem „Grand Prix de Littérature Dramatique“ ausgezeichnet. Nach der Premiere in Straßburg wurde es u.a. auf dem Internationalen Theaterfestival in Hermannstadt im Rahmen einer Lesung aufgeführt.