Ein halber Brautschleier als Erkennungszeichen im Jenseits

ADZ-Reihe „Kultur der Vielfalt“ – Teil 2/6: Die Ukrainer und Huzulen in Paltin, Ciumârna und Brodina

Murano-Glasperlen und Salve-Ketten mit Münzen und Kreuzen

Elena Torac erklärt die Symbolik auf den mit Wachstechnik dekorierten Eiern.

Ciumârna: Blick von einem Berghof

Demonstration traditioneller Handwerkskunst in Paltin
Fotos: George Dumitriu

Handkreuz

Baumkreuz

Ukrainische Trachten im Museum der Familie Torac in Brodina

Schmucke Trachten im Museum der ehemaligen Gymnasialschule in Paltin

Mit Hefekranz und Salztellerchen steht der „kleine Mann“ vor der Tür: schwarzer Hut aus gekringeltem Lammfell, Weste, langer Schal, beides reich bestickt, Strümpfe aus weißer Wolle, die Füße stecken in Opanken. Ein schmucker Hirtenknabe, wie es sie hier in der Bukowina seit Jahrtausenden gibt. Marceluș brüllt ein Gedicht gegen den Wind.  Endlich hilft ihm jemand, die Maske abzunehmen, seine Hände sind ja beschäftigt. Das Gedicht wird, jetzt hörbar, für das Fernseh-Team wiederholt. Dann öffnen sich uns die Türen.

Oktober 2021. Trotz Corona, vierte Welle, darf unsere Reise stattfinden. Ein Bus mit etwa zehn Journalisten, Kameraleuten, Radioreportern. Wir quellen auf die Wiese vor der ehemaligen Gymnasialschule in Paltin, einem der zehn Dörfer der Gemeinde Vatra Moldoviței in der rumänischen Bukowina. Der heutige Tag ist der ukrainischen Minderheit gewidmet: Paltin, Ciumârna, Brodina. Wie oft waren wir schon in der Gegend, ohne sie bewusst wahrzunehmen: Ihre Trachten ähneln denen der Rumänen, ihre Bräuche ebenso – und wer hört schon so genau hin, um zu bemerken, dass man hier auf der Straße Ukrainisch spricht?

Schule der Traditionen

Die einstige Gymnasialschule, die wir mit Marceluș und seinen Schulkameraden betreten,  ist seit 2000 in ein Museum für ein  traditionelles ukrainisches Haus umgewandelt worden. Hierfür sind die Kinder im Sommer mit Fahrrädern und im Winter mit Schlitten losgezogen, haben an die Türen alter Leute geklopft und um alte Trachten, Haushaltsgegenstände oder Werkzeuge gebeten. So mancher fand noch ein Webschiffchen von der Urgroßmutter, einen Wollkamm, einen Brautschleier, Schürzen, eine Schmuckaxt. Holztröge und Butterfässchen wurden geschleppt. Heute sind die meisten dieser Häuser mit dem Tod ihrer Bewohner verschwunden, bedauert Ilie Săuciuc, der Leiter der Vereinigung der Ukrainer in Suceava. Ein Stück ihrer Seele aber lebt im Schulmuseum weiter. 

Die Trachten, liebevoll drapiert und an die Wand gepinnt, die Gegenstände des täglichen, einfachen Haushalts, dekorativ gruppiert, erzählen Geschichten. Schüler führen durch die Räume. Hier ein Gedicht, dort ein Lied, liebevolle Atmosphäre. Wir landen in einer Stube mit einem riesigen weißgetünchten Herd, auf dem früher kleine Kinder und alte Leute ihre Bettstatt ganz oben hatten. Ein Bündel Arnika für Tinktur liegt zum Trocknen aus, als wäre die Oma nur kurz rausgegangen. Mitten im Raum steht eine hölzerne Wiege, ringsum an den Wänden entlang die „lăița“, eine einfache Holzbank, auf Wackersteine gestützt. Keine Stühle. Während in der Lampe Schafsfett eine flackernde Flamme unterhält, sitzen die Frauen im Halbkreis, spinnen, weben, sticken und schaukeln mit den Füßen das Kindlein in der Wiege. Jeden Winter wächst der Berg auf der Aussteuertruhe ein Stückchen höher. Wenn er bis zur Decke reicht, kann das Mädchen heiraten, heißt es. Aber auch für Ostern mussten die Hausfrauen jeden Winter neue Kleider für alle Familienmitglieder fertigen. So manche hatte da mit zehn Kindern oder mehr ganz schön zu tun.

Im Wettstreit um das schönste Motiv

Im Schulmuseum wird die Szene für uns nachgestellt. Die Frauen des lokalen Folklore-Ensembles „Polonenka“ demonstrieren ihre traditionelle Handwerkskunst: Tanti Aurica dekoriert Ostereier mit feinen Linien aus Wachs mit einem Metallröhrchen auf hölzernem Stiel, der „chișiță“. Auf das erste Muster folgen drei Farbbäder, dazwischen wieder Wachslinien. Zum Schluss, wenn das Wachs weggeschmolzen wird, bleiben kunstvolle Ornamente auf gelbem, rotem und schwarzem Grund. Kaum jemand in der Bukowina, der dies nicht beherrscht. Für so manche Familie ist das Eierdekorieren ein willkommenes Zubrot. Motive aus dem religiösen oder bäuerlichen Leben wechseln sich auf dem zerbrechlichen Oval ab, je voller das Ei, desto besser. Wettbewerbe werden abgehalten. Ob Rumänen, Ukrainer oder Huzulen, jeder beansprucht den Ursprung dieser Tradition für sich, verweist auf die eigene Groß- und Urgroßmutter. Jedes Dorf hat seine typischen Farben und Motive. Diese findet man nicht selten auch in anderen Kulturkreisen. Die Svastika, ursprünglich ein Sonnensymbol, der Rechen, der Pflug... Das ganze Jahr über wurden früher hierfür  Pflanzen gesammelt, getrocknet und zu Farben verkocht: bestimmte Wiesenblumen oder Zwiebelschalen für Gelb, rote Rüben und Oregano für Rot, Walnussblätter für Schwarz. Heute verwendet man Anilinfarben.

Die Frauen wetteiferten aber auch, was die Motive ihrer Trachtenblusen (ie), Schürzen (catrința) und Schleier (năframa, mărama) betraf. Das Gestickte wurde vor der Nachbarin verborgen, denn jede wollte an Ostern mit einem einzigartigen, selbst erdachten Muster brillieren. „Es gibt keine zwei Ukrainerinnen mit der gleichen Bluse“, unterstreicht die Schuldirektorin des Gymnasiums von Vatra Moldoviței, Ilaria Pușcă. Die Schule, in der 223 von 476 Kindern in 15 Klassen vier Stunden in der Woche Ukrainisch lernen, setzt sich aktiv für das Bewahren dieses lokalen Kulturerbes ein. Mehrere Generationen an Lehrern und Schülern haben an diesem Museum mitgewirkt. „Wir Lehrer haben die Pflicht, Traditionen wertzuschätzen, denn ihretwegen ist die Bukowina so schön!“

Aus dem Schatzkästchen der Vorfahren

Aufgereiht wie bunte Perlen sitzen die Frauen des Ensembles in ihren Trachten auf der „lăița“. Polonenka bedeut auf Ukrainisch „Lichtung vor der Sennhütte“. Gemeinsam nehmen sie  an Gesangswettbewerben teil, in der Ukraine haben sie einmal einen großen Preis gewonnen, obwohl auch professionelle Chöre vertreten waren, erzählt Tanti Catrina. Sie singen die Lieder ihrer Groß- und Urgroßeltern, „alle älter als 100 Jahre“. So wie auch ihre Catrin]a-Schürzen, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. In Paltin trägt man auch heute noch Tracht, vor allem auf Hochzeiten. Moderne Kleider, die erst die Österreicher mitgebracht haben, nennen sie „haine nemțești“ - deutsche Kleidung. Als Riesenfortschritt wurde die Einführung der Gummistiefel betrachtet, wirft eine der Frauen zu unserer Belustigung ein. „Endlich holten sich die Männer bei der Waldarbeit in ihren schweinsledernen Opanken keine nassen Füße mehr!“

Die Ukrainer sind sichtlich stolz auf ihre Kultur – und doch haben sich bei der letzten Volkszählung nur 186 der 1700 Einwohner von Paltin offiziell zu ihrer Ethnie bekannt, erzählt Ilie Săuciuc, ohne es wirklich erklären zu können. „Jeder weiß doch, dass hier die Mehrheit Ukrainisch als Muttersprache spricht.“  Zur benachbarten Ukraine pflegt man zwar kulturelle Verbindungen, erhält aber keine finanzielle Unterstützung. „Wegen des Kriegszustandes haben sie kein Geld für uns übrig“, erklärt Săuciuc. Für Ukrainischlehrer ist man gottlob nicht auf das Nachbarland angewiesen,  in Sighetul Marma]iei gibt es ein ukrainisches Lyzeum mit einer pädagogischen Abteilung, wo diese ausgebildet werden.

Eine interessante Untergruppe der ukrainischen Minderheit ist das Bergvolk der Huzulen (huțuli, huțani). Manche glauben, die Huzulen seien die Nachfahren der letzten freien Daker, die von den Ukrainern assimiliert und slawisiert wurden.

Bei Badea Costan auf dem Berg

Zu Fuß steigen wir auf den Hügel von Badea Costan in Ciumârna. Der Witwer, eigentlich Constantin Moisă, gilt als illustres Mitglied der Polonenka-Gruppe und ist bei den Frauen sichtlich der Hahn im Korb. In seiner zur Veranda umfunktionierten Scheune sammelt er allerlei traditionelle Gegenstände und bewirtet Gäste. Erst ein Schnaps, dann ein Lied, gesungen oder mit der Flöte, der Maultrommel, die Instrumente hat er alle selbst gemacht. Es folgt ein Tänzchen, die Frauen tätscheln seine erhitzten Wangen, dem Bade gefällts sichtlich, das hält fit.  So wie der steile Weg zu seinem Haus, den der 81-Jährige noch täglich schafft und der so manch Ungeübtem selbst bei strahlendem Sonnenschein den Atem raubt. Hier fährt nichts, hier muss man klettern, bei jedem Wetter! Zwischen den Ästen eines Apfelbaumes hindurch, an dem noch ein später roter Apfel hängt, wird ein idyllisches Bild geknipst: bewaldete Hügel bis zum Horizont.

Tauschhandel

Wir fahren weiter nach Brodina, einer größeren Gemeinde nahe an der Grenze zur Ukraine, zu der zehn Bergdörfer gehören.  Aus dem Leben der dortigen ukrainischen Minderheit erzählt das Museum der Familie Torac. Untergebracht ist es in einem alten traditionellen Holzhaus, das ursprünglich als Dorfkneipe und Gemischtwarenladen diente und einer jüdischen Familie gehörte. Petre Paul Torac erinnert sich an die Geschichten seiner Großmutter: Die Kneipe lag direkt gegenüber dem Rathaus und wenn die Huzulen aus den Bergen den beschwerlichen Weg zurücklegten, stärkten sie sich dort für den Rückweg. Nur dass der Kunde meist kein Bargeld hatte... Dann fragte der Jude: Hast du denn kein Grundstück? Und es wurde jahrelang angeschrieben, so lange, bis ein Stück Land den Besitzer wechselte. „Den Huzulen hat das nicht gestört, der hatte meist sehr viel Grund“, erklärt Torac schmunzelnd. Die Juden aber kamen durch diese Art Tauschhandel zu beträchtlichem Landbesitz.

Der erste Raum des kleinen Museums zeigt die Kammer, in der die Frauen zum handarbeiten saßen. Das galt als heilige Handlung, zitiert Torac seine Großmutter: „mâinile la lucru, mintea la Dumnezeu“ - die Hände bei der Arbeit, der Geist bei Gott. Und der Fuß schaukelte auch hier die Wiege. Auf der Aussteuertruhe türmen sich Kissen und Stoffe. Für das Haus musste der Bräutigam sorgen, die Ausstattung war Sache der Braut. 

Erkennungszeichen für die Ewigkeit

Brautschleier schmücken Wandikonen, so manche kostbare Tracht ist zur Schau gestellt, „doch die schönsten Stücke fehlen“, bedauert Torac... So wie die prächtige Catrința seiner Großmutter, die sie mit 18 gefertigt hatte und nie im Leben getragen. Er hätte sie gerne für sein Museum gehabt, gesteht er, doch die alte Frau bestand darauf, damit begraben zu werden. Sich schön machen für den Tod? Nicht selten ließen sich Frauen sogar in ihrem Brautkleid begraben, erzählt der junge Mann über eine alte Dorfbewohnerin, die ihm ihre Brauttracht versprochen hatte. Kurz vor ihrem Tod überlegte sie es sich dann doch anders. Denn wie sollte sie ihr früh verstorbener Mann im Jenseits erkennen, wo er sie doch nie alt gesehen hat, wenn nicht an der  Hochzeitstracht, argumentierte sie.

Diese Denkweise geht auf einen alten ukrainischen Brauch zurück: Wenn ein Ehepartner vor dem anderen stirbt, wird der Brautschleier in der Mitte durchgeschnitten. Die eine Hälfte nimmt der Verstorbene mit ins Grab, die andere Hälfte soll später als Erkennungszeichen dienen, um die Seelen wieder zu vereinen. Hier gilt offenbar nicht, „bis dass der Tod euch scheidet“, man darf darauf hoffen, mit dem Liebsten auch die Ewigkeit zu verbringen. Ein faszinierender Brauch, findet Torac, der trotzdem ein wenig bedauert, dass deshalb ausgerechnet die schönsten Trachten für immer verloren gingen.

Die traditionelle Tracht der Ukrainerinnen und Huzulinnen unterscheidet sich von der der Rumäninnen durch besonders lebhafte Farben, vor allem Orange und Rot. Auch die Borten ihrer Catrința-Schürzen sind deutlich reicher verziert. Bunte Farben trug man bis ins hohe Alter, es gab keinen Unterschied zwischen der Tracht junger und alter Frauen.

Auch Schmuck spielte bei den Ukrainerinnen eine große Rolle. „Die Juden haben sehr schöne Sachen verkauft, zum Beispiel Perlen aus venezianischem Murano-Glas, da waren die Frauen ganz begeistert“, weiß Petre Paul Torac von der Groß- und Urgroßmutter. Oft hatte man sie vom Liebsten geschenkt bekommen und ein Leben lang aufbewahrt. Gerne trugen die Frauen auch mehrreihige Ketten (salve) mit Münzen oder Bronzekreuzen daran. Auf diese Weise demonstrierte man sowohl Glauben als auch Wohlstand. 

Männer hingegen trugen ein einziges Kreuz an einer Kette, je größer und schöner, umso höher ihr Status. Typisch waren auch geschnitzte Handkreuze mit der Svastika, dem Sonnenmotiv, dass sich vom nazistischen Hakenkreuz durch die Drehrichtung unterscheidet. 

Ein Baum als Gotteshaus

Ein Holzkreuz musste auch mit sich führen, wer aus dem Bergdorf nicht zur Kirche ins Tal herabsteigen konnte. Es wurde dann vor einem Baum aufgestellt und man betete wie vor einem Altar – „zu Gott, nicht zu dem Baum“, betont Torac. Dass ein Baum eine Kirche ersetzen könne, sei nicht verwunderlich, meint er: „In der Bukowina gibt es einen regelrechten Tannenkult.“ Von der Geburt bis zum Tod begleitete die Tanne alle Etappen des Menschen. Schon das Taufwasser des Neugeborenen wurde an der Wurzel einer Tanne ausgegossen, damit es so gesund, stark und aufrecht werde wie diese. Ein neues Haus wurde mit einem mit Wimpeln geschmückten Tannenbaum auf dem Dachstuhl eingeweiht. Bei der Hochzeit wurde das Heim der Brautleute mit geschmückten Tannenwipfeln dekoriert. Und an wichtigen Namenstagen, etwa Peter und Paul, kamen die Freunde des Namensträgers, stellten in seinem Hof eiligst einen Pfahl mit einer Tanne auf, dann gaben sie Fersengeld. Der Hausbesitzer sollte ihnen nachlaufen und wenn er die „Täter“ erwischte, mussten diese eine Runde ausgeben, andern-falls er. Selbst in den Tod begleitete einen die Tanne: mit bunten Wollfäden geschmückt zierte sie alle vier Ecken des Leichenwagens. 

„Die Tanne, das Pferd und der Baltag waren die wichtigsten Freunde des Mannes hier in der Bergregion“, resümiert Torac. Und hält zur Demonstration des letztgenannten eine  bronzene Axt in die Höhe, ein rituelles Zierstück, das kein Mann missen durfte. „Je größer und prachtvoller der Baltag, umso höher sein Status. Der hier gehörte einem Chiaburen, wie man hier die Großbauern nannte, er hat sogar sein Geburtsdatum vor über hundert Jahren eingraviert.“

Petre Pauls Mutter, Elena Torac, eine bekannte Künstlerin im Eierdekorieren, ihre Sammlung ziert den hinteren Raum des Museums, erinnert sich gerne an ihr Elternhaus zurück. Von Mutter und Großmutter hatte sie nicht nur das Kunsthandwerk übernommen, das ihr viele Preise eingebracht hat, sondern auch die richtige Zeit für alle Pflichten in Haus und Hof gelernt: die sogenannte „rânduiala“. Da gab es den Ablaufplan für den gewöhnlichen Arbeitstag, für jeden Feiertag, für die Woche oder das ganze Jahr. „Damit man nicht nur Zeit hat für wichtige Dinge, sondern auch noch für die schönen.“  So zeigt sich auch in der Bukowina, was nicht nur der französische Schriftsteller Victor Hugo so treffend in Worte fasste, sondern  allem Kulturstreben zugrunde liegt: „Das Schöne ist ebenso nützlich wie das Nützliche. Mehr noch vielleicht.“

Die ADZ-Reihe „Kultur der Vielfalt“ ist Ergebnis einer vom DRI organisierten Journalistenreise in die Moldau und Bukowina im Oktober 2021 auf den Spuren der nationalen Minderheiten. In sechs Folgen, die im 14-tägigen  Rhythmus erscheinen, geht es darin um Kultur und Kulturerbe der Armenier, der Ukrainer und Huzulen, der Lipowaner, Deutschen, Polen und Juden.