„Ein Licht im dunklen Tunnel von Auschwitz“

Eine Kulturanthologie als Annäherungsversuch an den Schrecken

Als junges Mädchen sang Philomena im Pariser Lido und Wintergarten von Berlin. Tanz und Musik – das war ihre Welt. Aufgewachsen in einer Künstler- und Musiker-Familie, Sinti mit weit zurückreichenden Wurzeln in Deutschland, änderte sich dieses Leben in Kreativität und Freiheit brüsk in den späten 1930er Jahren, als ihre Pässe und später die Instrumente konfisziert wurden. 1943 wurde Philomena nach Auschwitz deportiert. Dort rettete ihr die Musik das Leben. Im KZ sang die ausgebildete Sopranistin vor Mithäftlingen und Nazi-Offizieren zur Ermutigung für sich und andere.

Philomena, geborene Köhler – die Mutter deutsche Jüdin, der Vater Sinto aus Frankreich - später verheiratete Franz, hat den Holocaust überlebt. Ein Großteil ihrer Familie wurde in den Konzentrationslagern ermordet. Aber erst 1970, als einer ihrer Söhne in der Schule als „Zigeuner“ beschimpft wurde, begann sie, in der Öffentlichkeit darüber zu reden. In Schulen gab sie ihre Erinnerungen an das KZ an Schüler und Lehrer weiter. Und sie begann zu schreiben: 1982 erschien ihre folkloristische Sammlung für Kinder unter dem Titel „Zigeunermärchen“. 1985 teilte sie ihre Erinnerungen an Auschwitz in ihrer Biografie „Zwischen Liebe und Hass – Ein Zigeunerleben“. 1995 wurde Philomena Franz mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, 2001 zur „Frau Europas“ gekürt. In diesem Jahr wurde sie hundert Jahre alt.

Eintätowiert in unsere deutsche Gedächtnishaut

Hundert Jahre alt zu werden ist an sich schon ein Wunder, bemerkt der He-rausgeber der Anthologie in Kulturgeschichte „Der Himmel über Philomena. Auschwitz sieht uns an“, erschienen diesen Sommer im Ludwigsburger Pop Verlag, Matthias Buth, im Klappentext. „Ihre Familie wurde von unseren Vorfahren rassistisch verfolgt als die anderen.“ - Dabei sind Sinti vor rund 600 Jahren nach Europa und Deutschland gekommen, sie sind Deutsche, wie auch die vor 250 Jahren eingewanderten Roma.

Bis heute liest Philomena Franz aus ihrer Biografie an Schulen und Universitäten und vermittelt ihre Lebensbotschaft: „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich.“ Ein gewaltiges Vermächtnis für eine Frau, die dem Schrecken ins Angesicht geblickt hat uns zeitlebens von ihm verfolgt wurde.  So hat sie „uns Deutschen“ „ein Licht im dunklen Tunnel von  Auschwitz entzündet“, vor dem wir dieses Grauen annehmen könnten, ohne am Deutschsein zu verzweifeln, schreibt Buth.

Vom Einband blickt uns ein halb geöffnetes, verkrustetes Auge traurig an. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man: Es ist ein Astloch in einer hölzernen Baumscheibe, knorrig und knotig. Wie der Holocaust, für immer auf unserer „Gedächtnishaut eintätowiert“ (Buth).

Wir können den Anfängen nicht wehren...

In der Anthologie spannen elf Autoren - Markus Bauer, Helmut Braun, Klaus-Michael Bogdal, Matthias Buth, Hajo Jahn, Rainer Maria Klass, Kolja Lessing, Kurt Roessler, Claudia Roth, Paul Schendzielorz und Marina Weisband - den Himmel über Philomena. Hier seien – auch um dem Leser die Spannung nicht zu nehmen – exemplarisch drei Kapitel he-rausgegriffen.
Einer der eindrucksvollsten Beiträge ist die Rede von Marina Weisband im deutschen Bundestag am 27. Januar 2021: „In der Ukraine hieß ich Onufriyenko. Meine Familie hat damals mit Absicht den jüdischen Namen Weisband nicht tragen wollen, wegen der Nachteile, die er bedeutete.“ Ihr Großvater hatte den Holocaust überlebt und dann sein Leben lang Zeitung gelesen, um die Spannungen im Land zu verfolgen. 1993 sagte er plötzlich: „Wir müssen gehen. Jetzt.“

Sie zogen nach Deutschland, nahmen den Namen Weisband wieder an. Heute ist es Marina, die die Zeitungen aufmerksam liest. Zum Gebet geht sie durch Sicherheitsschleusen. „Und ich lerne, dass der Traum vom einfach nur Mensch sein Arbeit bedeutet“, sagt die Abgeordnete, die Politikerin wurde, um von der Hilfsbereitschaft, die sie erfahren hatte, etwas zurückzugeben.
Sie vermittelt aber auch, was es heute bedeutet, Jüdin in Deutschland zu sein: Manchmal fühle sie sich wie ein exotisches Zootier. „Teil einer kleinen Minderheit zu sein, bedeutet immer, alle zu repräsentieren und von allen repräsentiert zu sein.“

Häufig werfe man den Juden vor, unsichtbar zu sein. Doch bei der Gründung eines jüdischen Stammtisches, bekanntzugeben in einem Lokalblatt,  riet die Polizei ausdrücklich davon ab, „etwas zu veröffentlichen, das Zeit und Ort enthält“.

Über die Shoa resümiert Weisband: „Es bedeutet vor allem, zu verstehen, dass es geschehen ist und wieder geschehen kann.“ Denn Antisemitismus beginne nicht, wo auf eine Synagoge geschossen wird, auch nicht bei den Gaskammern - sondern mit Verschwörungserzählungen wie den „Tiraden über eine angebliche jüdische Opferrolle“. Erschreckende Erkenntnis: „Wir können den Anfängen nicht wehren, weil es ein stetiger Prozess ist.“

Dem „Zigeunergefühl“ auf der Spur

Über die Entdeckung des Anderen im Selbst schreibt Klaus-Michael Bogdal: „Die Völker Europas wurden plötzlich durch ein neues vermehrt“. „Orientalische Ägypter – Gypsies“, „zusammengelaufener Pöbel oder Nachfahren der Paria, der Unberührbaren aus Indien“? „Ein Volk ohne Schrift, Religion, Kultur und Geschichte.“ Die Zitate stammen von Franz Liszt aus „Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn“.  Bogdal spannt den Bogen von den Ursachen des „ethischen Autismus der Romavölker“, sprich, ihrer Selbstisolation, über eine Historie an Missverständnissen bis hin zu Klischees über freiheitsliebende, naturverbundene und musikalisch begabte „Zigeuner“.

Die Quelle des ersteren sieht er in „einer Verwandlung der Realität ständiger Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung in eine Eigenart der Minorität“. Wer immer ausgegrenzt wird, grenzt sich bald freiwillig aus.

Kulturschocks kennzeichnen den Zusammenstoß von Romakünstlern mit bekannten Persönlichkeiten aus Musik und Wissenschaft, wie etwa Liszt oder Humboldt. Ihre Versuche, die „Natur der Zigeuner“ zu verstehen, werden überschattet von eigenen kulturellen Tabus, etwa bei der Interpretation der enthemmten „Sexualität“ spanischer Roma-Tänzer bis zu den klassischen Vorurteilen einer unberechenbaren Nichtintegrierbarkeit. Hier schildert auch Liszt seine eigene Erfahrung mit dem von ihm stark geförderten und sämtlichen Meistern dieser Welt präsentierten hochbegabten Zigeunerjungen Josy, der „bald wieder zu seiner Horde in der Steppe“ zurückkehrte.

Doch auch die romantischen Bilder seien „so realitätsfremd und -blind wie der Traum von einem antibürgerlichen Bündnis der Außenseiter“, resümiert Bogdal.

Singen für ein „Überleben“ der letzten Minuten

Warum hat man in den Konzentrationslagern überhaupt musiziert? Die Gründe sind so vielfältig, dass Paul Schendzielorz gleich 48 hochspannende Seiten damit füllen kann. Seine Beobachtungen reichen über das Ghetto in Theresienstadt über die schlimmsten Lager: Mauthausen, Buchenwald, Auschwitz. Teils akzeptierten die Nazis musikalische Aktivitäten zur Ruhigstellung der Inhaftierten, teils forderten sie sie zur Untermalung ihrer eigenen Feiern ein oder gestalteten sogar Wettbewerbe. Musik diente als Demonstration für ihre Organisationskunst, für geordnetes Marschieren, oft wurden Häftlinge damit betraut, ein Lagerlied zu komponieren. Manchmal befahlen SS-Funktionäre aber auch besonders lautes Singen, um die Häftlinge körperlich zu schwächen. Gesanglich untermalt wurden auch die Ankünfte der Züge oder der Einzug in die Gaskammern : „Musik als Mittel von Gewalt und Sadismus“.

Für die Insassen war das Singen aber auch oft ein Mittel, „glücklich einige Stunden des Elends zu vergessen“. Manchmal diente es der Völkerverständigung. Manchmal war es essenziell für ein „Überleben“ der letzten Lebensminuten. Hierzu eine tief bewegende Schilderung der jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber, die 1942 mit Ehemann und Sohn von Prag nach Theresienstadt deportiert wurde. Dort arbeitete sie in einer Kinderkrankenstube und sang mit den Kindern von ihr komponierte Lieder, die sie mit der Gitarre begleitete. Als der Transport dieser Kinder nach Auschwitz anstand, begleitete sie sie freiwillig mit ihrem Sohn. Ein Häftling berichtete von einem Wortwechsel vor der Gaskammer. „Stimmt es, dass wir duschen dürfen?“ fragte sie einen Mann, den sie zufällig aus Theresienstadt kannte. Der konnte sie nicht anlügen und sagte: „Nein, das hier ist kein Duschraum, es ist eine Gaskammer und ich gebe dir jetzt einen Rat. Ich habe euch oft singen hören in der Krankenstube. Geh so schnell wie möglich in die Kammer. Setz dich mit den Kindern auf den Boden und fangt an zu singen. Sing, was du immer mit ihnen gesungen hast. So atmet ihr das Gas schneller ein. Sonst werdet ihr von den anderen zu Tode getreten, wenn Panik ausbricht.“

Aber es gibt auch andere Geschichten. „Meine Stimme hat mich gerettet, sagt der in Auschwitz inhaftierte Tenor Emilio Jani 1960, und auch Coco Schuhmann, der Jazzmusiker von Theresienstadt, glaubte, der Musik sein Leben zu verdanken. Er starb 2018 mit 94 Jahren.

An das Singen als Protest erinnert sich Karel Bermann aus Theresienstadt: Die Häftlinge sangen absichtlich falsch, zu leise oder brüllten. Man sang auch aus versteckter Kritik oder „um das, was sich dort abspielte, ins Lächerliche zu ziehen.“

Die Gründe sind so vielfältig wie die Lieder.

Philomena Franz betonte immer wieder, dass sie im Singen Zuflucht finden wollte. „Die Musik festigt die Seele“, sagte die ausgebildete Sopranistin gegenüber Mathias Buth, der sie als „Deutschlands Mutter Courage“ bezeichnete. Dies gelte umsomehr für ein Volk, so Philomena, dem das Musizieren im Blut liegt, das „anders denkt und anders fühlt“.

„Der Himmel über Philomena. Auschwitz sieht uns an“, Matthias Buth (Herausgeber), Pop Verlag, Ludwigsburg 2022, ISBN 078-86856-351-6, erhältlich auch im Erasmus Büchercafe  Hermannstadt und unter www.buechercafe.ro.


Ich bin der Welt abhanden gekommen.
Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
und ruh in einem stillen Gebiet.
Ich leb allein in meinem Himmel,
in meinem Lieben, in meinem Lied!

                                 Philomena Franz